Sie erzählt darin die Geschichte einer zerbrochenen jüdischen Familie, die sich zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem abspielt. Die Autorin wollte einen Roman der Gegenwart schreiben, doch heute ist er für sie ein historischer Roman, wie sie in einem Interview sagt. Denn die beispiellosen Anschläge der Hamas auf Israelis am
7. Oktober 2023 haben die Welt für alle Juden verändert. Die Hoffnung auf einen Zufluchtsort, der eine - wenn auch bedrohte - Sicherheit und Heimat verspricht, ist zerstört.
Und doch ist es gerade jetzt lohnend, „Gewässer im Ziplock“ zu lesen. Das Buch beschreibt – neben vielem anderen - jüdisches Leben in Deutschland, das durch die jüngsten Ereignisse besonders in den Fokus gerückt ist. Ausgrenzung und Antisemitismus gehören im Roman zum Alltag, ein Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober allerdings offener, ungenierter und gewaltbereiter zeigt.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die 15-jährige Margarita und ihr alleinerziehender Vater Avi, der als Kantor einer Synagoge in Berlin arbeitet. Avi ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Hier hat er Marsha kennengelernt, eine amerikanische Jüdin, und gemeinsam sind sie nach Deutschland ausgewandert, um ihrer Tochter den Militärdienst zu ersparen. Doch Marsha hat es in dem kalten Land nicht ausgehalten. Als Margarita drei Jahre alt war, hat sie die Familie verlassen und in den USA Karriere als Wissenschaftlerin gemacht.
Das Buch erzählt vom Sommer 2023, als Margarita 15 Jahre alt ist. Während ihr Vater in Berlin bleibt, verbringt sie die Ferien zunächst bei ihren Großeltern in Chicago und besucht danach ihre Mutter Marsha in Jerusalem, die hier ein Fellowship an der Universität erhalten hat. Margarita soll ihrer fremdgewordenen Mutter näher kommen und auf einem gemeinsamen Roadtrip Israel kennenlernen.
Dana Vowinckel ist eine sehr genaue Beobachterin, und sie hat ein Gespür für die feinsten Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen. In „Gewässer im Ziplock“ gelingen ihr hinreißende, lebensnahe Porträts der vielschichtigen Figuren. Abwechselnd erzählt sie aus der Perspektive von Vater und Tochter. Margarita wird als schlagfertiges, trotziges junges Mädchen in der Pubertät geschildert, das von heftigen, widerstreitenden Gefühlen beherrscht wird. Sie macht erste sexuelle Erfahrungen, ekelt sich vor den Essgewohnheiten ihrer Großeltern und vor ihrem eigenen Körper, sehnt sich danach, von gleichaltrigen Jungen begehrt zu werden und schämt sich zugleich für ihre Abhängigkeit von deren Anerkennung, und sie schwankt zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und der Geborgenheit, die ihr Vater ihr gibt.
Avi lässt die Angst um seine Tochter nie los, weil er sie als jüdisches Mädchen potentiell immer in Gefahr sieht. Halt geben ihm sein Glaube und die jüdischen Rituale, deren Schönheit für Vowinckel vor allem in der Musik und der bildreichen Sprache liegt.
Ohne zu werten, schildert die Autorin dagegen in Marsha, Margaritas Mutter, eine säkulare Facette des Judentums. Marsha hält sich nicht an die zahlreichen Vorschriften, und Jiddisch ist für sie vor allem Gegenstand ihrer Forschung als Linguistin. Die Begegnung zwischen Mutter und Tochter und ihre gemeinsame Reise durch Israel gestalten sich äußerst schwierig. Margaritas Wut auf ihre Mutter, von der sie sich ihr Leben lang im Stich gelassen fühlte, führt zu heftigen Streits. Der Schlagabtausch zwischen beiden ist dabei so lebensecht erzählt, dass es immer wieder auch ein Vergnügen ist, ihm zu folgen. Auch deshalb, weil zwischen den Attacken Zärtlichkeit und das Bedürfnis nach Nähe zu spüren sind.
Am Ende des Romans kommt es zu einem Familientreffen am Krankenbett der Großmutter. Alle Figuren beschäftigt und quält in unterschiedlicher Weise, ob und wie jüdisches Leben in Deutschland möglich ist. In einem Land, in dem für alle Juden der Holocaust noch tief im Bewusstsein verankert ist, in dem Avi auf der Straße ein Baseballcap über seiner Kippa tragen muss und Margaritas Freund, als er erfährt, dass sie Hebräisch spricht, sie fragt: „Krass. Aber du bist jetzt nicht so eine Zionistin, oder?“.
Wie Dana Vowinckel sagt, ist das Lesen von Romanen immer auch eine Übung in Empathie. „Gewässer im Ziplock“ kann helfen, eine Tür zu öffnen und unsere jüdischen Nachbarn besser zu verstehen.
Lilly Munzinger, Gauting
Dana Vowinckel
„Gewässer im Ziplock“
Suhrkamp
„Gewässer im Ziplock“
Suhrkamp