Zahlreiche Bücher haben in den vergangenen Jahren versucht, die bewegenden Fragen über die Themen Flucht, Exil, Identität und Sprache in Worte und Bilder zu fassen. Das mit dem
Prix Concourt du Premier Roman 2017 ausgezeichnete Debüt
"Du springst, ich falle" von
Maryam Madjidi ist ein ganz besonderes Buch.
1980 geboren, floh sie als 6-jährige mit ihren Eltern aus dem Iran nach Paris, wo sie nach einigen Umwegen heute wieder lebt.
In drei großen Abschnitten erzählt sie – immer wieder mit Zeitsprüngen und Einschüben von Ereignissen – von ihrer Suche nach Identität.
Da ist zunächst das kleine Mädchen, das mitten in die Studentenrevolte 1980 in Teheran hineingeboren wird. Ihre Eltern erleben brutale Gewalt, der Bruder der Mutter kommt ins Gefängnis, ein anderer, geliebter Onkel wird im Gefängnis erschossen. Einzig die Geborgenheit bei der Großmutter, die für sie zeitlebens eine liebevolle und prägende Person bleiben wird, gibt dem kleinen Mädchen das Erleben von glücklicher Kindheit. Die Gerüche der Speisen, welche die Großmutter liebevoll zubereitet, ihre Stimme, die Geräusche des vertrauten Hauses, der Schutz dort vor dem Lärm der Welt ist die prägende Erinnerung, die sich in ihrem Buch wie ein roter Faden durchzieht.
Als die Eltern sich schließlich zur Flucht entscheiden, muss das Mädchen alle Spielsachen an die Nachbarskinder verschenken – ein traumatisches Erlebnis, dessen Hintergrund es nicht verstehen kann. Alles Erlebte versucht sie deshalb in kleine Geschichten zu packen, die sich zu ihrer ganz eigenen Fantasiewelt zusammenfügen, in die sie sich zurückziehen kann. All dies ist es, was Madjidi aus der Sicht des Kindes erzählt, daneben stehen kurze Berichte über die schockierenden politischen Geschehnisse, die zur Flucht der Familie führen.
In Paris angekommen, ekelt sich das kleine Mädchen vor der Fremdheit der primitiven Unterkunft und dem Geruch des ungewohnten Essens, die Niedergeschlagenheit der Eltern macht ihm Angst. Nur eine kleine Iranerin, die auch im Haus eingezogen ist, holt sie aus ihrer Verzweiflung, wird ihre fröhliche Freundin.
Als sie in der Schule Französisch lernt, gewinnt sie etwas Zugang zu ihrer neuen Umgebung, aber die Eltern, besonders der Vater, dringen darauf, dass sie auch weiter Persisch lernen soll. Nach und nach aber wird diese Muttersprache für sie der Inbegriff aller schlechten Ereignisse und Erinnerungen, Französisch jedoch öffnet ihr das Tor zum Leben in der neuen fremden Heimat und steht für eine Zukunft in Sicherheit. Aber damit beginnt auch die Entfremdung zum Vater, dessen Identität besonders durch seine Sprache Ausdruck findet. Mit Französisch kommt er schlecht zurecht, die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat macht es ihm schwer, sich darauf einzulassen. Mit scheuer Distanz beschreibt die Tochter seine Hände, die sich im Exil immer mehr den Tätigkeiten anpassen, die er übernimmt, um überleben zu können.
Maryam wird eine gute Schülerin und schöne junge Frau, die mit einer gewissen Lust ihre exotische Ausstrahlung auf junge Männer ausspielt, die sie mit persischen Gedichten um den Finger wickelt. Gleichzeitig macht sie aber auch die bittere Erfahrung, dass sie für die einen Kommilitonen keine „echte“ Französin, für die anderen aber auch keine Iranerin mehr ist. Was zunächst ein reizvolles Spiel ist, wird zunehmend zur Identitätsfrage für sie selbst. Die Erinnerung an die geliebte Großmutter, die sie in stillen Momenten wie eine Erscheinung neben sich zu sehen glaubt, ermahnt sie, die Suche nach sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren.
Mit 23 reist sie nach Teheran. Überschwänglich empfangen von der Familie genießt sie ihre Zeit dort, beflügelt von den fernen Kindheitserinnerungen – und verliebt sich in einen Teheraner Abenteurer und Lebemann. Sie wünscht sich in Teheran zu bleiben, aber im Streit mit ihrer klugen Großmutter erkennt sie, dass das Leben im Iran weit von dem entfernt ist, was sie in Frankreich, besonders als Frau, als Freiheit selbstverständlich erlebt und was die Eltern für sie errungen haben, als sie ihr eigenes Leben aufgaben und flohen.
Nach einigen Jahren in China und in der Türkei lebt sie nun wieder in Paris. In ihrer Studienarbeit in Vergleichender Sprachwissenschaft in Paris über die persischen Dichter
Khayyam und
Hedayat versöhnen sich auch die beiden Sprachen, die sie geprägt haben.
Das besondere und berührende an Madjidis Geschichte ist, dass sie statt Zahlen und Debatten die Sinne erzählen lässt. Gerüche, Klänge, kindliche Fantasien werden zum Pfad durch das Exil des Mädchens. Das könnte natürlich auch ein schmaler Grad zum Gefühligen sein, aber genau das ist der Autorin wunderbar gelungen: zu berühren ohne rührselig zu werden.
Sehr fein und lesenswert!
Thyra Kraemer
Maryam Madjidi
"Du springst, ich falle"
Blumenbar