In
Sherko Fatahs Roman „
Der große Wunsch“ sucht ein Vater nach seiner verlorenen Tochter. Murad, ein deutscher Intellektueller mit kurdischen Wurzeln, begibt sich auf die Reise in das Herkunftsland seines Vaters, in das gefährliche Grenzgebiet zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak. Seine Tochter Naima ist verschwunden, ohne Abschied und Erklärung. Er und seine geschiedene Frau, eine Deutsche, wissen nur, dass Naima im Internet einen Gotteskrieger kennengelernt hat und ihm ins Kampfgebiet des IS gefolgt ist.
Sherko Fatah wurde 1964 in Ostberlin als Sohn eines kurdischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. In all seinen Büchern befasst er sich mit dem Aufeinandertreffen der europäischen und der arabischen Kultur, mit Entwurzelung und Gewalt.
Der Roman ist großartig erzählt. Landschaften sind für Sherko Fatah ein Spiegel der Seele, wie er in einem Interview sagt. Schon das erste Kapitel erzeugt in eindrucksvollen, an starken Bildern reichen Landschaftsschilderungen eine Stimmung von Verlorenheit und Gefahr. Murad hat sich in die Berge an der syrischen Grenze fahren lassen, eine Welt von karger Weite und herber Schönheit. Auf dem einsamen Rückweg durch Nebel und Schnee verliert er die Orientierung, wird von wilden Hunden verfolgt und schafft es nur mit Mühe zurück in das archaische türkische Dorf, in dem er sich einquartiert hat.
Hier wartet er auf zwielichtige Mittelsmänner, die behaupten, eine Spur zu seiner Tochter gefunden zu haben. Um die Leere zu füllen, unternimmt Murad zusammen mit seinem Fahrer Ausflüge in die Umgebung, in eine Region, die von Krieg und Gewalt geprägt. Ist. Sie stoßen auf ein kurdisches Militärlager und auf eine Höhle voller Skelette, erschreckende Überreste des Genozids an den Armeniern.
Zu den Menschen im Dorf hat Murad wenig Kontakt. Die lange Zeit des Wartens verbringt er vor allem mit Nachdenken. Nachdenken über sich selbst, sein Leben, über seine Tochter und darüber, wie unbegreiflich und fremd sie ihm geworden ist. Nirgends findet er Gewissheiten, zunehmend verliert er den Boden unter den Füßen.
Fatah schildert in seinem Roman die Wurzellosigkeit eines Mannes zwischen den Kulturen, der weder im Land seiner Väter noch in Deutschland eine wirkliche Heimat hat.
Der Name der Hauptfigur, „Murad“, bedeutet im Arabischen „Der große Wunsch“. Murads Tochter Naima verwendet den Namen ihres Vaters als ihr Computer-Passwort. Sein größter Wunsch ist, Naima zu finden und aus den Fängen des Gottesstaates zu befreien. Aber was ist der große Wunsch seiner Tochter, was hat sie zu ihrem radikalen Schritt bewogen? Wie kann sich eine junge Frau, die in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand aufgewachsen ist, einer Terrororganisation wie dem IS anschließen? Trifft ihn als Vater eine Schuld? Hat auch sie sich in Deutschland fremd gefühlt und nach einer Heimat gesucht? Hat sie plötzlich die Religion als Halt entdeckt? Oder ist sie einfach aus Verliebtheit einem jungen Mann ins vermeintliche Abenteuer gefolgt? Und wie verhält sie sich zu den unmenschlichen Gräueltaten der Gotteskrieger? Fragen, auf die es im Buch keine Antworten gibt.
Von seinen Mittelsmännern erhält Murad immer wieder Nachrichten von der Frau, die angeblich Naima sein soll. Fotos zeigen eine tiefverschleierte Muslimin. Er kann sie nicht identifizieren. Sporadisch werden ihm Audiofiles zugespielt, die aus dem online-Tagebuch seiner Tochter stammen sollen. Er ist sich nicht sicher, ob es sich wirklich um ihre Stimme handelt. Die Verbindung zu ihr findet nur auf der digitalen Ebene statt, die Wahrheit über Naima bleibt quälend unklar, wenn die Botschaften auch bruchstückhaft Einblicke in die düstere Welt einer Terroristin ermöglichen.
Anfangs fühlt sich die Frau noch als Teil einer Gemeinschaft, die einen berechtigten Kampf gegen die Unmoral und Verkommenheit des kapitalistischen Westens führt. Sie hat sich einer Hisba angeschlossen, einer Fraueneinheit des IS. Diese kontrolliert, ob die Menschen der Stadt sich an die Vorschriften des Kalifats halten und meldet kleinste Verstöße der Religionspolizei. Doch zunehmend scheint die junge Frau von Einsamkeit, Zweifeln und Angst gepeinigt zu werden. Ihre Berichte über Grausamkeiten der Gotteskrieger häufen sich und kulminieren in einer Folterszene an einer Schwangeren.
Sherko Fatah hat einen vielschichtigen, faszinierenden Roman über Fremdheit, Sinnsuche und Fanatismus geschrieben, der in einen hochspannenden, überraschenden Schluss mündet. „Der große Wunsch“ stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Zu Recht.
Lilly Munzinger, Gauting
Sherko Fatah
„Der große Wunsch“
Luchterhand