Fürstenfeld. Ravels „Bolero“ ist eines der meist gespielten Stücke des Konzertrepertoires weltweit, war aber im Vorfeld als Ballettmusik gedacht und wurde entsprechend im November 1928 in Paris uraufgeführt. Ein Jahr später gab es dann in den USA die erste Konzertaufführung. Über sein populärstes Werk soll Maurice Ravel einmal zu Arthur Honegger gesagt haben: „Ich habe nur ein Meisterwerk geschrieben, das ist der „Boléro“, leider enthält er keine Musik.“ Die Komposition ist ein einsätziges Stück, gleichbleibend in Melodie, Harmonik und Rhythmik. Was sich ändert ist das Crescendo, das wirkungsvoll an Lautstärke gewinnt, bis es den ganzen Raum ausfüllt und tief berührt. Das Hessische Staatsballett hat diesen orchestralen Ohrwurm wieder zu dem gemacht, was er einst war: Zu einer Ballettmusik. Am Mittwoch gastierte das Ensemble mit diesem Stück, das eigentlich ein doppelter Boléro ist und bei dem die Choreographie von Eyal Dadon stammt, wiederholt in Fürstenfeld.
Der erste Teil des „Boléro“ gehört Solist Tatsuki Takada, der sich zu einer wie aus den Fugen geratenen Musik tänzerisch bewegt. Es ist klanglich eine Art Bolero-Torso, bruchstückhaft erweitert, minimiert, neu instrumentiert, was bei einem derart bekannten Stück sofort aufmerksam und unruhig macht. Es ist, als würde der Solist sich an diesem neuen „Boléro“ versuchen, ihn mit aufwühlenden, manchmal hyperaktiv wirkenden Bewegungen wieder in die „richtige“ Bahn zu lenken. Anschließend übernahm dann das große Ensemble und Ravels Bestseller beginnt von neuem, diesmal original gespielt (Tonaufnahme vom Staatsorchester Darmstadt). Das Solo wird zum Gruppentanz, der Egotripp zum Gruppenerlebnis.
Doch der zweifache Boléro kam nach der Pause. Begonnen hatte der Abend mit „I'm afraid to forget your smile“ („Ich habe Angst, dass ich Dein Lächeln vergesse“), einem tänzerischen Ausloten von Nähe und Distanz, von Liebe und Trauer, von Zuwendung und Abkehr. Unterlegt wurde dieses Tanzstück von choralartiger, sakral anmutender Musik, die von Ola Gjeilo, Jóhann Jóhannsson, David Lang, Arvo Pärt, Howard Skempton, Eric Whitacre und Charles Anthony Silvestri stammt und unter der Leitung von Ines Kaun zusammengebracht wurde. Sechs Tänzer des Ensembles bewegen sich im Solo, im Duo und als Gruppe, oft nur in minimalen Posen, zeitweise auch im Laufschritt den Raum durchmessend. Es entstehen berührende Szenen, atemberaubende Bilder, emotionale Kommunikationsversuche. Die hellen, durchscheinende Kostüme geben den Tänzern eine majestätische Aura, als wären sie aus Carrara-Marmor geschlagen, Puppen, die an Fäden Befindlichkeiten ausdrücken. Ein Blick ins Jenseits – oder in die Zukunft? Faszinierende Nachlässigkeiten im Umgang mit dem Körper, neben maniriertem Verhalten, Lustgewinn neben steifen Fresken. Hier wird die Spezies Mensch bildlich seziert und dekonstruiert. Und am Ende schaut man sinnbildlich auf die Kreise und die Pirouetten, auf den Irrgarten und die Abwegigkeit des Lebens. Begeisternd.
Jörg Konrad