Lea Ypi „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“
Eigentlich wollte Lea Ypi, die heute politische Philosophie an der London School of Economics lehrt, eine theoretische Abhandlung über die unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit schreiben. Doch, wie sie selbst sagt, aus den Ideen wurden Menschen. Und so erzählt sie in „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ in einer glasklaren Sprache, mit Witz und Empathie, von ihrer Kindheit und Jugend im sozialistischen Albanien der 1980er und 90er Jahre. Sie zeigt in ihrem spannend zu lesenden Memoir, wie das politische System ihr eigenes Leben und das ihrer Familie entscheidend geprägt und alle Aspekte des Alltags durchdrungen hat.
Das Buch beginnt mit einer symbolträchtigen Szene: Als zehnjähriges Mädchen, im Jahr 1990, gerät Lea in eine Horde wütender Demonstranten, die „Freiheit“ und „Demokratie“ skandieren. Sie flüchtet sich zum Bronzedenkmal des großen Stalin. Wie sie von ihrer Lehrerin weiß, hat er die ganze Welt inspiriert und Kinder geliebt. Doch als Lea nach oben blickt, erschrickt sie: Stalin hat keinen Kopf mehr. Er wurde ihm von Demonstranten abgeschlagen.
Das kleine Albanien galt vor dem Kollaps des Ostblocks als „weißer Fleck Europas“, weil sich das Land seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend isoliert hatte und von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Enver Hoxha errichtete ein stalinistisches Schreckensregime; politische Säuberungen, Morde, Folter waren an der Tagesordnung.
Doch Lea Ypi wusste als Kind und Heranwachsende von all dem nichts. In ihrem Buch erzählt sie mit leiser Ironie aus der kindlichen Perspektive von ihren unbeschwerten ersten Jahren. Lea ist eine sehr gute Schülerin und eine eifrige Sozialistin. Sie glaubt ihrer Lehrerin nicht nur, dass der Lehrer von Marx „Hangel“ hieß, sondern auch, dass sie in einem der freiesten Länder der Welt lebt, in dem der wahre Sozialismus weitgehend verwirklicht ist, in dem es kaum Gier und Neid gibt, weil alle Menschen gleich sind.
Dennoch spürt Lea, dass sie anders ist als ihre Freundinnen. Ihre Großmutter spricht französisch mit ihr, und als Enver Hoxha im Jahr 1985 stirbt, kann sie nicht verstehen, warum ihre Familie nicht so trauert wie alle anderen. Sie erreicht nicht einmal, dass ihre Eltern ein gerahmtes Bild von Onkel Enver im Wohnzimmer aufstellen.
Lea Ypis Eltern stammen von reichen Großgrundbesitzern, Adeligen und Intellektuellen ab, sozialen Schichten, die in allen sozialistischen Ländern verhasst waren. Leas Urgroßvater Xhafer Ypi war vor Hoxhas Machtergreifung albanischer Ministerpräsident. Sein Sohn, Leas Großvater, musste deshalb 15 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbringen. Ihre geliebte Großmutter, mit der sie aufwächst, war Nichte eines Paschas im Osmanischen Reich. Viele ihrer Verwandten waren im Kommunismus hingerichtet worden. Auch Leas Eltern leiden unter dem politischen System. Vor allem ihr Vater lebt in ständiger Angst und Sorge, und beide Eltern müssen in ungeliebten Berufen arbeiten.
Doch um sich selbst und ihre Kinder zu schützen, erzählen sie Lea nichts von ihrer Herkunft. Sie lassen sie in dem Glauben, dass sie nur zufällig denselben Nachnamen trägt wie der ehemalige Ministerpräsident und Vaterlandsverräter. Sie haben sogar eine Art Geheimcode entwickelt: wenn sie von einem Freund oder Verwandten erzählen, er besuche die Universität, meinen sie damit, er sitze im Gefängnis. Und wenn jemand von der Universität geflogen ist, soll das heißen, dass sie oder er sich umgebracht hat.
Erst spät, als auch in Albanien der Sozialismus zusammenbricht, erfährt Lea die Wahrheit: sie hat in einer Lüge gelebt. Durch diese Erkenntnis wird – symbolisch -ihrem Idol Stalin brutal der Kopf abgeschlagen. Lea stürzt in eine tiefe Identitätskrise. Und das Land Albanien schlittert in Anarchie und Chaos.
Lea Ypi verharmlost weder den Sozialismus noch den Kapitalismus. Die Hoffnungen vieler Menschen in Albanien auf Freiheit, Demokratie und ein besseres Leben werden nach der Wende enttäuscht. „Das hat man von zu viel Freiheit“ sagt Leas Großmutter, als auch in ihrer Stadt Schleuser, Drogendealer und Zuhälter an Einfluss gewinnen. Strukturreformen, die die Marktwirtschaft ankurbeln sollen, erzeugen ein Heer von Arbeitslosen. Als die Hälfte der albanischen Bevölkerung, darunter auch Leas Familie, all ihre Ersparnisse an unseriöse Schneeballfirmen verliert und das Finanzsystem zusammenbricht, kommt es zum Bürgerkrieg und einer beispiellosen Auswanderungswelle.
Lea Ypis Resümee lautet: Nicht nur der Sozialismus, der den Menschen vorschreibt, was sie zu denken und zu tun haben, ist repressiv. Sondern auch eine Gesellschaft, in der individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht so miteinander vereinbart werden, dass tatsächlich alle Menschen gleiche Entfaltungsmöglichkeiten haben, in der es weiter vererbte Privilegien und bewusstes Ausblenden von Ungerechtigkeit gibt. Freiheit muss vor allem gesellschaftlich verstanden werden.
Lilly Munzinger, Gauting
Lea Ypi
„Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“
Suhrkamp