Stephan Micus schafft auch auf seinem neusten, dem 25. Album seit 1977 für ECM, eine grundlegende Verbindung zwischen dem leidenschaftlich forschenden Klangethnologen und dem überzeugenden wie feinsinnigen Musiker. So ist auch „Thunder“ das Ergebnis von weiten Reisen in die entferntesten Gegenden unserer Welt, in denen ein völlig andersartiges Verhältnis zum jeweiligen Lebensraum und zur Schöpfung prinzipiell besteht. Hier bestimmen zum Großteil noch Respekt und Ehrfurcht vor der Natur den Alltag, zumindest weit mehr, als wir es in der westlichen Welt auch nur ansatzweise leben. Von all diesen Expeditionen, speziell in die Regionen des Himalaya und des Hindukusch, hat er stets unterschiedlichste Instrumente mitgebracht, die den musikalischen Inhalt seiner Aufnahmen bestimmen. „Die große Anziehungskraft lag für mich in erster Linie in den Bergen und den dramatischen Landschaften, aber ein Höhepunkt war immer der Aufenthalt in den tibetischen Klöstern. Wann immer ich konnte, verbrachte ich dort lange Zeit, um der rituellen und zeremoniellen Musik zuzuhören. Eine Musik, die zeitlos erscheint - uralt und modern zugleich.“
Aus diesen Klöstern stammt zum Beispiel die Dung-Chen-Trompete, die dieses Album mit ihren tiefen, stimulierenden und überwältigenden Klängen durchziehen. Micus hat das Spiel auf diesen auch visuell imposanten Hörnern von Mönchen in Kathmandu erlernt. Sie bestimmen, wenn auch nur sparsam eingesetzt, nachhaltig das Album.
Hinzu kommen Instrumente aus Indien aus Burma, Borneo, Gambia, Namibia, aber auch aus Bayern und Skandinavien. Am auffälligsten ist hierbei wohl die Ki un Ki, ein zwei Meter langer Halm, der in der Taiga wächst und von dem, um auf ihm zu musizieren, der untere Teil abgeschnitten wird. Man bläst dann auf diesem Halm nicht, sondern inhaliert und erzeugt so trompetenähnliche Töne.
Zudem verwendet Micus erstmals die Kaukas, eine fünfsaitige Harfe des San-Volkes im südlichen Afrika. Und immer wieder unterschiedlichste Schlaginstrumente, die letztendlich eine Hommage an die „Donnergötter“ dieser Welt sind, die wiederum für geistig personifizierte Naturphänomene stehen, die in den von Zivilisation weitab gelegenen Gebieten eine völlig andere Bedeutung und letztendlich auch Wirkung haben.
All diese Gedanken, Inspirationen und Instrumente, deren Herkunft zum Teil tausende Kilometer voneinander entfernt liegen, bringt Stephan Micus auf „Thunder“ miteinander in emotional pulsierende Kommunikation, schafft tief greifende Beziehungen untereinander, wo man sie gar nicht vermutet. Er beherrscht als Solokünstler die Kunst der Überleitung und straft mit seinem globalen, friedfertigen Einfühlungsvermögen alle jene Lügen, die meinen in voneinander abgegrenzten Wertesystemen leben und denken zu müssen. Bei ihm ist dieses Weltverständnis keine Illusion, sondern gelebte, musizierte Realität.
Jörg Konrad