Es gab Zeiten, da standen die meisten Jazzmusiker der Alten Welt im Schatten ihrer amerikanischen Kollegen. Das hat sich im Laufe der Jahrzehnte zugunsten der Europäer geändert.
Nur Franco Ambrosetti sorgte schon in der Vergangenheit für eine der wenigen Ausnahmen. Seine Hardbop-Alben, speziell aus den 1980er Jahren, gehören zum Temperamentvollsten und Intelligentesten, was in Sachen Jazz zu jener Zeit zu hören war. Und das lag ganz sicher nicht allein daran, dass ein Großteil seine damaligen Mitstreiter aus dem Mutterland des Jazz kamen. Umgekehrt - es war für Michael Brecker, Phil Woods, Tommy Flanagan, Hal Galper und viele andere eine Freude und eine Ehre, mit dem Schweizer Trompeter spielen und auftreten zu dürfen.
Betrachtet man Ambrosettis Diskographie rückblickend fällt aber auf, dass es wenig gibt, was der Sohn des Saxophonisten und Industriellen Flavio Ambrosetti bisher noch nicht musikalisch umgesetzt hat. Mit „Nora“ erfüllt er sich nun 80jährig einen langgehegten Wunsch: Ein komplettes Album, eingespielt mit Streichorchester.
Hierfür lud er sich im Februar dieses Jahres Mitstreiter seiner letzten All Star Band (John Scofield, Uri Caine, Scott Colley u.a.) nach New York ein, bestellte bei Alan Broadbent, einst für Barbara Streisand und Shirley Horn tätig, die Arrangements für sechs Standards und zwei eigene Kompositionen und spielte diese dann mit seinen Freunden und einem Streichensemble in drei Tagen ein.
Es versteht sich fast von selbst, dass Ambrosetti sämtliche Balladen ausschließlich auf dem weicheren und volleren Flügelhorn spielt. Er, der Ästhet und Souverän, beschwört mit Eleganz und Kompetenz die Musik auf diesem Album. Zugleich spüren wir die Leidenschaft, die Hingabe zu seinem Instrument. Er provoziert mit einer lyrischen Abgeklärtheit, findet auch in „Autumn Leaves“ und vor allem in Miles Davis „All Blues“ neue Interpretationsansätze, die zwischen Herausforderung und Entspanntheit pendeln. Er erzählt eben seine eigenen Geschichten, läst sein Können in faszinierendem Glanz erstrahlen. Übrigens ist der Titel „Nora“ eine musikalische Liebeserklärung an Ambrosettis Frau Silli, die als Schauspielerin im gleichnamigen Theaterstück von Henrik Ibsen einst die Hauptrolle spielte.
Jörg Konrad