„Oh William!“ ist der Titel des jüngsten Romans von Elizabeth Strout, ein Stoßseufzer, in dem ein wenig Ironie, ein wenig Resignation und viel Zärtlichkeit mitschwingt. „Oh William“ seufzt Lucy Barton, die Icherzählerin, im Laufe des Buches immer wieder.
Lucy Barton ist Schriftstellerin und eine zentrale Figur im Romankosmos von Elizabeth Strout; wie auch einige Nebenfiguren kennt man sie schon aus anderen Geschichten der Autorin. Hier berichtet sie von ihrer Beziehung zu William, ihrem geschiedenen Ehemann.
Die beiden waren fast 20 Jahre lang verheiratet und haben zwei erwachsene Töchter. Auch nach ihrer Scheidung und weiteren Ehen – Lucys zweiter Mann ist gestorben und William ist gerade von seiner dritten Frau verlassen worden - sind sie Freunde geblieben. Als William in eine tiefe Lebenskrise gerät, ist es Lucy, die er anruft und um Hilfe bittet. Zusammen reisen sie nach Maine, um nach Williams Vergangenheit und seinen Wurzeln zu forschen. Beide werden mit ihren Kindheitstraumata konfrontiert.
In dem ihr eigenen schlichten, plauderhaften Erzählton nähert sich Elizabeth Strout behutsam den höchst differenzierten Protagonisten des Romans und legt dabei immer mehr Schichten ihrer Charaktere frei. Die Autorin ist eine intime Kennerin der menschlichen Seele. Das Besondere an ihr ist der große Respekt, mit dem sie all die Unzulänglichkeiten, Ängste und Verletzungen ihrer Figuren darstellt.
Lucy und William haben beide den amerikanischen Traum verwirklicht. „Unsere Väter haben im Krieg auf verschiedenen Seiten gekämpft, und deine Mutter kam aus tiefer Armut, genauso wie ich, und schau uns jetzt an, wir leben beide in New York, und beide sind wir erfolgreich“ sagt Lucy einmal. Lucy ist als Autorin so bekannt, dass auch in der abgelegensten Bibliothek in Maine ihre Bücher im Regal stehen, und William ist ein wohlhabender, immer noch gutaussehender ehemaliger Universitätsdozent. Doch beide sind sie vom Leben Gezeichnete.
Williams wahres Gesicht ist oft hinter einem „Visier eiserner Liebenswürdigkeit“ verborgen, wie es Lucy ausdrückt. Nachts quälen ihn Angstzustände, die mit seinen verstorbenen Eltern zu tun haben. Sein Vater, der als Soldat für die Nazis gekämpft hat, war als Kriegsgefangener in den USA und hat dort seine Mutter kennengelernt. Von seinem deutschen Großvater, einem Kriegsgewinnler, hat William ein Vermögen geerbt. Häufig träumt er nun von Konzentrationslagern und Gaskammern. Und auf der Reise mit Lucy kommt er der Lebenslüge seiner scheinbar so warmherzigen, lebenslustigen Mutter auf die Spur, eine Erkenntnis, die ihn tief erschüttert und verunsichert.
Elizabeth Strout zeigt in ihrem Roman, wie verheerend sich mangelnde Liebe der Eltern auf ihre Kinder auswirkt, wie diese Urerfahrung deren ganzes Leben prägt. Lucy ist in Maine aufgewachsen. Auf der Fahrt durch das öde, heruntergekommene Land wird sie von Bildern ihrer schrecklichen Kindheit überschwemmt, einer Kindheit, die so grauenhaft war, dass sie nur in Andeutungen darüber sprechen kann. Es sind Erinnerungen an Armut, seelische und körperliche Gewalt und gesellschaftliche Ausgrenzung. Den Geruch ihrer Herkunft wird Lucy nie mehr ganz los. „Oh William“ ist damit auch ein Buch über das große soziale Gefälle in Amerika. Schlimmer noch als die Armut war für Lucy die völlige Lieblosigkeit ihrer Mutter. Trotz ihres Erfolgs als Schriftstellerin fühlt sie sich ihr Leben lang immer wieder isoliert und für die Welt unsichtbar. Dennoch ist ihr Lebensrückblick nicht von Zorn oder Hass geprägt, sondern von verständnisvoller Melancholie; Verständnis empfindet sie für ihre Eltern ebenso wie für William. Elizabeth Strout hat in Lucy Barton eine gütige, humorvolle und weise Figur geschaffen.
In locker aneinander gereihten Episoden erzählt Lucy von ihrer Ehe, von Momenten der Liebe und Geborgenheit, von Distanz, gegenseitigen Kränkungen und Williams Affären. Ihre gemeinsame Reise setzt einen neuen Annäherungsprozess in Gang. Und doch findet Lucy auf ihre Frage: „Wer ist dieser Mann, dieser William?“ keine wirkliche Antwort. Auch das ist eine Erkenntnis des Romans: “…im Kern bleiben wir alle Geheimnisse. Mythen. Wir sind alle gleich unerforschlich, das will ich damit sagen.“ Oh Lucy! Oh William!
Lilly Munzinger, Gauting
Elizabeth Stout
„Oh William!“
Luchterhand