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49. Banine „Kaukasische Tage“
50. Jo Lendle „Eine Art Familie“
51. Nils Wortmann „Alles so schön still hier – 100 Ambient-Alben, die man ...
52. Reinhard Kleist
53. Jonathan Franzen „Crossroads“
54. Günter Steffen & Jewgenij Samjatin „Die Hauptstadt – Ost-Berlin in den...
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Freitag 07.01.2022
Banine „Kaukasische Tage“
Banine, das Pseudonym von Umm-El-Banine Assadoulaeff, erzählt in „Kaukasische Tage“ die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend, aus einem Land, das einerseits an die Märchen aus 1001 Nacht erinnert und dann wieder mitten in den Konflikten und Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt. Das damalige (kulturelle) Zentrum, in dem Christen, Muslime, Juden, Kaukasier, Armenier, Türken und Russen teils (noch) friedlich nebeneinander lebten, war das aus zahlreichen Palästen, Moscheen und Festungsbauten bestehende Baku am Kaspischen Meer. Alle Ethnien und Religionsanhänger besaßen laut ihren Dekreten strenge Glaubensregeln – doch kaum jemand hielt sich wirklich daran, so dass die verschiedenen Volksgruppen sich weniger voneinander abgrenzten, als man es glauben könnte.
Baku, heute Hauptstadt und wirtschaftliches Zentrum von Aserbaidschan, war um 1900 das symbolische El Dorado des Ostens. Es wurden gewaltige Ölvorkommen entdeckt, die das zivile Leben förmlich auf den Kopf stellten. Abenteurer und Geschäftsleute aus der ganzen Welt wurden magisch angezogen und verarmte einheimische Hirten und Bauern kamen zu unvorstellbarem Reichtum.
Auch Banines Urgroßeltern waren mittellos, lebten reduziert fast wie im Mittelalter. Doch dann veränderte das Öl die Situation der Familie vollkommen. Ihr Vater wurde zu einem der reichsten Männer der Stadt und richtete sein Leben nach westlichen Maßstäben ein. Natürlich wurden auch seine Kinder von diesen Veränderungen geprägt. Sie lebten in einer Art Grenzzone zwischen Orient und Okzident, was einerseits aufgrund der Puffer-Situation Freiheit bedeutete, andererseits jedoch immer wieder zu Spannungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern führte.
Banine erzählt ungestüm wie unterhaltsam von den Verhältnissen innerhalb ihrer Familie. Sie beschreibt erfrischend verkrustete Strukturen, wie sie als fünfzehnjährige gegen ihren Willen verheiratet wurde, von ihrer Großmutter, einer resoluten Matriarchin, von ihren Schwestern, ihren spitzbübischen Cousins und ihren unstillbaren Träumen von der großen Liebe und Paris – ihrem Sehnsuchtsort.
Die politischen Entwicklungen, der Genozid an den Armeniern, die Unabhängigkeitsbestrebungen Aserbaidschan, die politische Karriere des Vaters, der Einzug der sowjetischen Revolution und die damit verbundenen Repressalien der Familie, ja auch der Verlust sämtlichen materiellen Reichtums – alles beschreibt Banine wenig lamouryant, sondern mit größtmöglicher Distanz und tabuloser Ironie.
Jörg Konrad

Banine
„Kaukasische Tage“
dtv
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Dienstag 28.12.2021
Jo Lendle „Eine Art Familie“
Schlaf, Narkose, Tod – und das in Zeiten des Kaiserreichs, des Nationalsozialismus, der DDR und der jungen Bundesrepublik. Trotz dem mit Grauen, (Staats-) Terror und verblendender Intoleranz angereicherten Jahrhundert, in dem dieser autobiographische Text spielt, ist „Eine Art Familie“ ein friedliches Buch. Jo Lendle, Autor und Verleger, erzählt die Geschichte seines Großonkels Ludwig Lendle. Der war forschender Pharmakologe während der Zeit der Naziherrschaft und hatte im Bereich der Toxikologie und speziell der Narkose gearbeitet. Er selbst, homosexuell aber mit seiner Lebensfreundin Alma und seiner Haushälterin, vielleicht auch als äußerem Schutz verbunden, stand dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Wilhelm, der zwischen 1933 und 1945 Karriere macht.
Trotzdem stützt eben die Arbeit Ludwigs, im Roman „Lud“ genannt, das Regime beträchtlich, macht viele Greueltaten erst möglich. So geht es auch um die Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers und seines Tuns im direkten Umfeld einer Diktatur, um Verstrickungen und um Schuld. Im Fall von Ludwig interessiert sich die Wehrmacht für seine Giftgasforschungen, wobei im Buch nicht ganz klar wird, wie die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit genau genutzt werden. Man ahnt schlimmes.
Bei aller realistischen und fiktionalen Herangehensweise fasziniert die Atmosphäre die Jo Lendle in "Eine Art Familie" schafft. Der Autor ist ein Meister der subtilen, der stillen Sprache, die überwiegend beschreibt und nur wenig wertet. Er selbst antwortete in einem Interview auf die Frage, wie er das Verhältnis von Realität und Fiktion in der Geschichte beschreiben würde: „Das Verhältnis von Wirklichkeit und Wünschenswertem ist immer kompliziert, im Roman wie im täglichen Leben. Wir erzählen uns pausenlos unsere Geschichte, auch in der familiären Überlieferung. Diese Sorte Reibung mag ich, als würde man aus zwei unterschiedlichen Materialien ein Haus bauen.“
Dabei ist Lendle ein genauer Beobachter, der seine Figuren, ob nun real oder fiktiv, mit viel Empathie entwickelt, der versucht, immer hinter die jeweilige Fassade zu blicken, Entscheidungen deutlich herausarbeitet, um damit den einzelnen Menschen in seiner Handlungsweise zu verstehen.
Das sind die angenehmen Feinheiten dieses Romans, der das Denken, die Entscheidungen und vor allem die Zurückhaltungen und Distanzierungen von Menschen in einer Zeit beschreibt, die gewiss nur wenig Heldenhaftes hervorgebracht hat.
Jörg Konrad
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Montag 20.12.2021
Nils Wortmann „Alles so schön still hier – 100 Ambient-Alben, die man gehört haben sollte“
Er war es, der vor mehr als fünfundvierzig Jahren mit einer Musik für Aufmerksamkeit sorgte, die es so bis dahin nicht gab, ja von der sogar viele behaupteten, es sei überhaupt keine Musik. Dieser Mensch mit Namen Brian Peter George St. John le Baptiste de la Salle Eno, kurz Brian Eno genannt, produzierte 1975 mit „Discreet Music“ das erste offizielle Ambient-Album. Diese Art des Erzeugens von Klängen und elektronischen Verfremdens von schon bestehendem Tonmaterial war neu, fand aber relativ schnell eine begeisterte Fangemeinde. Was sich dort so vorsichtig und leise entwickelte, hatte jedoch nichts esoterisches oder metaphysisches an sich. Dafür war diese Form der Musik zu gebrochen, zu experimentell, waren die einzelnen Tonfiguren zu reduziert und konturlos, sie lebte eben nicht allein vom Schönklang. Wer die pure Harmonie suchte, wurde hier nicht fündig.
Nils Wortmann hat in seinem Buch „Alles so schön still hier – 100 Ambient-Alben, die man gehört haben sollte“ eine Reise durch die chronologisch aufgebaute Geschichte der Ambient Music vorgelegt. Und er fragt zu recht auch gleich in der Einleitung: Warum nur 100 Ambient-Alben? Natürlich, es gibt mittlerweile, wo Ambient im Bereich der elektronischen Musik einen festen Stellenwert eingenommen hat, tausende ähnliche Alben. Viele Musiker und Bands bedienen sich beim Kreieren eigener Musik einzelner Versatzstücke aus dem Ambientbereich. Wobei auch immer nicht ganz klar ist, wo eigentlich Ambient beginnt. Eine feststehende Definition für dieses Klangphänomen gibt es nicht.
Aber um einen ungefähren Überblick der Entwicklung dieser Musikform zu bekommen, bedarf es schon einer gewissen Eingrenzung, bzw. eines anfänglichen Führens durch diese außergewöhnlichen Klangwelten. Insofern ist „Alles so schön still hier“ ein ideales Einstiegswerk. Jedem der 100 ausgesuchten Werke widmet Wortmann eine Seite. Angefangen bei eben jenem Brian Eno, der später als Produzent großer Pop- und Rockacts wie David Bowie, den Talking Heads, U2 oder Peter Gabriel unterwegs war, reicht das weite Spectrum der im Buch vorgestellten Instrumentalisten von Celer, Williams Basinski, Pan American bis Jan Jelinek. Zudem gibt es auf jeder Seite zu dem vorgestellten Werk noch Empfehlungen zum „Weiterhören“, so dass letztendlich weit mehr als 100 Alben benannt werden, die eine intensivere Auseinandersetzung lohnen.
Insofern ist dieses Buch sowohl idealer Einstieg in die Ambientwelt, als auch wunderbare Literatur für all jene, die sich in diesem Metier auskennend bewegen. Musikalisch zu entdecken gibt es auf den 2020 Seiten auf jeden Fall immer etwas.
Jörg Konrad

Nils Wortmann
„Alles so schön still hier – 100 Ambient-Alben, die man gehört haben sollte“
Wolke Verlag
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Donnerstag 16.12.2021
Reinhard Kleist
Am 8. Januar wäre David Bowie 75 Jahre alt geworden und sein Alter Ego „Ziggy Stardust“ feiert 2022 seinen 50. Geburtstag. David Bowie war ein Genie der Verwandlung, vor dem sich der Zeichner Reinhard Kleist nun mit „STARMAN“ in einem graphischen Meisterwerk gebührend verneigt.
Reinhard Kleist ist im Metier Comic & Graphic Novel ein Meister seines Fachs. Bereits während seines Studiums veröffentliche er seine erste Erzählung über keinen geringeren als H.P. Lovecraft. Danach folgten mit „Havanna“ & „Castro“ ein Reisecomic, respektive eine Biographie des kubanischen Präsidenten, gefolgt von der Geschichte des Holocaust-Überlebenden Hertzko Haft in „Der Boxer“ oder mit „Der Traum von Olympia“ die ergreifende Geschichte der somalischen Olympialäuferin Samia Yusuf Omar, die auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrank. Neben all diesen Werken ist Reinhard Kleist gewissermaßen ein Fachmann im Bereich Musiker-Comicbiografien. Auf seinen ersten Streich „Cash – I See a Darkness“ aus dem Jahr 2006, folgte 2017 „Nick Cave – Mercy on Me“. Mit „Starman“ hat Kleist aktuell ein neues, unglaublich ambitioniertes Kapitel in seinem Œuvre aufgeschlagen.
Reinhard Kleists Novel „Starman“ behandelt den Aufstieg und Fall eines der wohl berühmtesten Alter Egos der Musikgeschichte: David Bowie’s Ziggy Stardust. Dabei bedient sich Kleist in seiner zeichnerischen Umsetzung verschiedener Stilmittel auf mehreren Ebenen. Die Kolorierung wurde dabei zum Teil von Thomas Gilke übernommen. Während Strecken der Geschichte, wie Rückblenden mehr oder weniger einfarbig, bzw. in Sepia gehalten und die Illustration des Liedes „Space Oddity“, zusätzlich mit ein paar Farbtupfern versehen sind, werden im Gegensatz dazu z.B. Tour Rückblenden farblich knallig koloriert. Weitere Songs haben eine fast überdrehte 70ziger Jahre Farbästhetik, die an klassische Comichefte dieser Zeit erinnern. So kann sich der Leser durch die unterschiedliche Kolorierung in den Erzählebenen je nach Stimmung und Situation leicht zurechtfinden.
Bei allem Engagement und Begeisterung, die Kleist in seinen Projekten realisiert, bewahrt er sich stets eine gewisse Distanz zum Geschehen, um nicht zuletzt auch dunkle Facetten kritisch zu beleuchten und zu hinterfragen. Dabei spielt die Recherche bei seiner Arbeit immer eine große Rolle, um Gegensätze, Abgründe oder Anekdoten verlässlich in der Handlung unterzubringen. Alles in allem ist „Starman“ ein rundherum gelungenes Werk über David Bowies Anfänge und seinen Ziggy Stardust Years. Es macht einen Riesenspaß die Geschichte zu lesen und am besten lässt man dabei im Hintergrund die passende Musik mitlaufen, um die visuellen Eindrücke der Geschichte akustisch zu verstärken.
Nach „Starman“ David Bowie‘s Ziggy Stadust Years, wird mit dem geplanten zweiten Band „Low“ Bowies Zeit in Berlin näher beleuchtet und illustriert.
Thomas J. Krebs

Starman umfasst 176 Seiten und ist als Hardcover beim Carlsen Verlag in der Normalausgabe für 25,--€ erhältlich. Zusätzlich erscheint eine limitierte Sonderausgabe mit einem signierten Druck für 59,--€,

Starman Buchrelease in München:
Am 19. Januar wird Reinhard Kleist im Literaturhaus München, gemeinsam mit Niels Beintker (BR) und Klaus B. Wolf am DJ Pult die Lebensgeschichte von Ziggy Stardust live vorstellen.
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Mittwoch 08.12.2021
Jonathan Franzen „Crossroads“
Der berühmte erste Satz von Tolstois „Anna Karenina“ könnte als Motto über Jonathan Franzens neuestem Roman stehen: „Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“
Jonathan Franzen, einer der großen amerikanischen Erzähler unserer Zeit, wurde 1959 in Illinois geboren. Sein Roman „Crossroads“ spielt in den frühen 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, in den Jahren, die er in einem Interview die entscheidenden seines Lebens nennt. Franzen hat mit „Crossroads“ einen breit angelegten Familienroman geschrieben und zugleich das psychologisch ausgeleuchtete Bild einer Epoche gezeichnet, einer Umbruchszeit, die auch uns in Europa bis heute prägt.
Im Mittelpunkt steht die Familie Hildebrandt: Russ Hildebrandt, ein attraktiver Mann Mitte 40, seine übergewichtige Frau Marion und ihre vier Kinder. Russ ist Gemeindepfarrer in einem Vorort von Chicago und wird wegen seiner christlich-moralischen Haltung und seiner politisch engagierten Predigten geschätzt und auch von seinen Kindern als Autorität anerkannt. Die Ankunft eines wesentlich jüngeren Pfarrers stürzt ihn in eine existentielle Krise. Der neue Pfarrer hat eine besondere Begabung, mit jungen Leuten umzugehen. Er gründet „Crossroads“, eine Jugendgruppe, die in kürzester Zeit einen sensationellen Zulauf erlebt. Man glaubt Gott nicht mehr in der Bibel oder im Gebet zu finden, sondern in der Begegnung mit dem anderen Menschen. Grundprinzipien sind absolute Offenheit gegenüber den anderen und körperliche Nähe – ständige Umarmungen gehören zum Ritual. So werden die Treffen der Jugendlichen zu einer Art Gruppentherapie. Das alles entspricht dem antiautoritären Lebensgefühl der späten 1960er und der 70er-Jahre, das bis heute nachwirkt. Spiritualität wird fernab von kirchlichen Institutionen gesucht. Russ mit seinen Gebeten und Bibelzitaten gilt als uncool und altmodisch und wird schließlich aus der Gruppe gedrängt. Diese Demütigung verkraftet er schlecht. Er verliert immer mehr den Kontakt zu seiner Familie und wendet sich einer jungen, hübschen Witwe zu.
Jonathan Franzen erzählt die Geschichte aus den wechselnden Perspektiven der einzelnen Familienmitglieder. Sie alle reagieren auf ihre eigene Weise auf die Familiensituation und auf die neuen Zeitströmungen. Die Kinder erkennen die Eitelkeit und Schwäche ihres Vaters in seinem verzweifelten, oft peinlichen Hunger nach Anerkennung und verlieren den Respekt vor ihm. Sie machen unterschiedliche, oft sehr schmerzliche Erfahrungen: mit Sexualität, Spiritualität und Drogen, mit Liebe, Einsamkeit und psychischen Krisen. Auch Marion, die Mutter, die eine schwer traumatisierende Jugend erlebt und sich in ihrer Aufopferung für Mann und Kinder fast selbst verloren hat, sucht nach neuen Wegen.
Franzen ist ein tiefer Kenner der menschlichen Seele, ihrer Abgründe und Widersprüche. Bis in die feinsten und geheimsten Verästelungen spürt er dem reichen Innenleben seiner Romanfiguren nach, manchmal ironisch, meist mit großer Empathie. Alle sind sie durch christliche Moralvorstellungen geprägt, wollen gut sein und scheitern mit ihren hohen Ansprüchen an sich selbst. Ständig hinterfragen sie ihre Handlungen und ihre Motive. Wenn Clem, der älteste Sohn, sich zum Vietnamkrieg meldet, tut er das wirklich aus seinem sozialen Gewissen heraus, damit nicht nur Arme und Schwarze an die Front geschickt werden? Oder bekämpft er in Wahrheit nur seinen pazifistischen Vater? Ist nicht allein schon der Beschluss, gut zu sein und die innere Genugtuung darüber, ein Zeichen von Eitelkeit und Selbstüberschätzung? Perry, ein hochintelligenter Fünfzehnjähriger, drückt das so aus: „Also, meine Frage ist wohl, ob gute Werke wirklich um ihrer selbst willen getan werden können oder ob sie, bewusst oder unbewusst, immer einem persönlichen Zweck dienen…Wenn man klug genug ist, darüber nachzudenken, gibt es immer einen persönlichen Blickwinkel.“
Franzens Bücher sind zu Recht mit realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts verglichen worden. Auch in „Crossroads“ entwirft er ein Panorama, in dem die dargestellten Figuren in ihrer ganzen Individualität zum Spiegel ihrer Zeit werden. Dabei bemüht er sich nicht um einen ausgefallenen Stil oder um literarische Experimente, sondern um eine möglichst „transparente“ Art zu schreiben. „Jeder Satz soll makellos sein und einen Gedanken in sich tragen, aber ich möchte nicht, dass er die Aufmerksamkeit auf sich zieht.“ Wie Tolstoi oder Dostojewski geht es Franzen um den Menschen in all seiner Nichtigkeit und Größe, um Schuld und Vergebung. „Crossroads“ ist von einer Differenziertheit und Menschlichkeit, dass es einem den Atem verschlägt. Am Ende des 800-seitigen Buches ist man traurig, die Welt dieses großartigen Romans verlassen zu müssen. Aber es gibt einen Trost: „Crossroads“ ist der erste Band einer vom Autor geplanten Trilogie. Zwei weitere sollen folgen!
Lilly Munzinger, Gauting

Jonathan Franzen
„Crossroads“
Rowohlt
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Freitag 26.11.2021
Günter Steffen & Jewgenij Samjatin „Die Hauptstadt – Ost-Berlin in den Achtzigern“
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Das, was auf einem Großteil der im Buch veröffentlichten Bilder aussieht, wie Film-Requisiten für einen Kriegsfilm, sind die visuellen Eindrücke, die der Berliner Fotograf Günter Steffen auf seinem täglichen Weg zur Arbeit wahrnehmen musste. Es sind geisterhafte Szenarien, wie sie noch vor 40 Jahren in vielen ostdeutschen Städten zur Normalität gehörten. Diese Motive widerspiegeln die gelebte Realität, als ein Ergebnis des 2. Weltkrieges und der wirtschaftlichen Situation, in der sich die DDR während ihres insgesamt 41jährigen Bestehens befand.
Dieser gesamte Bildband, „Die Hauptstadt – Ost-Berlin in den Achtzigern“, ist Zeugnis eines Lebensgefühls, das heute, man glaubt es kaum, selbst bei den damaligen Bewohnern dieser Region fast vergessen scheint. Diese Trostlosigkeit, der Verfall, diese an Endzeitstimmung erinnernden Bilder lösen trotz aller inhaltlichen Resignation bei vielen heutigen Bewohnern nostalgische Gefühle aus. Man lebte in einer Art Nischengesellschaft, versuchte alles außerhalb des eigenen geistigen Horizontes auszublenden.
Nicht zuletzt dieses hoffnungslose und düstere Lebensumfeld, die ständigen politischen Drangsalierungen, die fehlende Zukunftsperspektive führten dazu, dass die DDR menschlich ausblutete und sehr viele Existenzen die persönlichen und gefährlichen Strapazen auf sich nahmen, um das Land zu verlassen.
Günter Steffen hat diese bedrohliche Stimmung in seinen Bildern eingefangen und trotz aller beklemmenden Inhalte einen Realzustand dokumentiert, und zugleich auch schwarz/weiße Kunstwerke geschaffen.
Der Ausdruck der Verzweiflung, der diesen Arbeiten innewohnt, wird durch Textfragmente des (damals) sowjetischen Autors Jewgenij Samjatin aus seinem dystopischen Roman WIR noch verstärkt. In seinem Buch werden die Namen der Menschen durch nummern ersetzt, sie leben in Häusern, deren Wände aus Glas sind und somit zu jeder Tages-und Nachtzeit beobachtet werden können. Um ihnen die Fantasie zu nehmen werden Gehirnoperationen durchgeführt, womit zugleich sämtliche Gedanken des Widerstands eleminiert sind.
Der Roman WIR wurde 1920 als eines der ersten Bücher in der Sowjetunion offiziell verboten.
Jörg Konrad

Günter Steffen & Jewgenij Samjatin
„Die Hauptstadt – Ost-Berlin in den Achtzigern“
Hartmann Books
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Autor: Siehe Artikel
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