„Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf.“ So beginnt der Roman „
Gentleman über Bord“ von
Herbert Clyde Lewis. Wie sein Protagonist ins Wasser, so stürzt sich der Autor, ganz ohne einleitende Worte, mitten ins Geschehen. Standish, ein Mann Mitte dreißig, befindet sich gerade auf der Überfahrt von Honolulu nach Panama, als ihn das Unglück ereilt. Er rutscht an Deck des Dampfers auf einem Ölfleck aus, verliert das Gleichgewicht und fällt ins Meer. Das Wetter ist prächtig, der Ozean ungewöhnlich ruhig, Haifische gibt es hier nicht. Was Standish in den vielen Stunden empfindet, die er im Wasser treibt, während sich die S.S. Arabella immer weiter entfernt, erzählt der Roman. Er ist 1937 in den USA erschienen und bald in Vergessenheit geraten. Das fantastische kleine Buch wurde erst jetzt wieder entdeckt und ins Deutsche übersetzt.
Herbert Clyde Lewis ist als Nachkomme russisch-jüdischer Immigranten in New York aufgewachsen. Er war ein unruhiger Mensch, lebte als Journalist, Sportreporter und Drehbuchautor in den USA und China und war immer wieder bedroht durch Geldnot und psychische Krisen. Mit Henry Preston Standish hat er in jeder Hinsicht sein Gegenbild geschaffen. Der Romanheld gehört der amerikanischen upper class an. Seine Vorfahren kann er bis zu den Pilgervätern zurückverfolgen. Als erfolgreicher Börsenmakler in New York führt er mit Ehefrau und zwei wohlgeratenen Kindern ein privilegiertes Leben. Deshalb ist die Fallhöhe durch seinen Sturz ins Wasser besonders groß.
Trotz der fatalen Situation, in der er sich nun befindet, kann man sich beim Lesen des tragikomischen Romans, in dem sich Sympathie für die Figuren und Ironie die Waage halten, immer wieder hervorragend amüsieren. Der Autor beschreibt Stanton als einen phantasielosen, gesitteten Langweiler, den noch nie ein Unglück gestreift hat. „Er trank mäßig, rauchte mäßig und schlief mäßig mit seiner Frau. Tatsächlich war Standish einer der ödesten Männer der ganzen Welt.“ Plötzlich gerät er jedoch in eine Art Midlife- Crisis und kann sein geordnetes Leben nicht mehr ertragen. Er nimmt sich eine Auszeit und geht auf Reisen. Auf dem Frachter, der ihn über den Ozean bringt, beginnt er, über seinen engen Horizont hinauszublicken. Er empfindet ein Gefühl von Freiheit und Glück, das er bisher nicht kannte. Zum ersten Mal kommt er mit Menschen außerhalb seiner Klasse in Berührung, freundet sich mit einem alten Farmer an und interessiert sich für die anderen Mitreisenden, die als Protagonisten der damaligen amerikanischen Gesellschaft mit Treffsicherheit und Witz charakterisiert werden.
Als Stanton auf den Schiffsplanken ausrutscht und aus der Welt fällt, ist sein Gefühl zunächst nicht Angst, sondern Scham. Ein Mann wie er, ein standesbewusster Gentleman, stürzt nicht einfach so in den Ozean, das ist lächerlich. Seine vornehme Erziehung hindert ihn daran, laut um Hilfe zu schreien. Anfangs glaubt er noch, dass die Arabella bald umdrehen und ihn retten wird. Doch er überschätzt seine Wichtigkeit, sein Fehlen fällt lange niemandem auf. Immer wieder wechselt der Autor gekonnt die Perspektive, springt von Stanton zu den unterschiedlichen Leuten auf dem Dampfer, ihren Gedanken und Tätigkeiten, die wenig mit dem einsamen Mann im Meer zu tun haben. Dieser macht währenddessen ganz unterschiedliche Phasen durch, seine Stimmung schwankt zwischen Hoffnung und zunehmender Panik.
Zeitgenössische Kritiker haben dem Roman seine Kürze vorgeworfen, dabei ist gerade das seine Stärke. „Gentleman über Bord“ ist von einer solchen Präzision und Unmittelbarkeit, dass man beim Lesen fast meint, selbst im Meer zu liegen und das grenzenlose Verlorenheitsgefühl zu spüren, das Standish angesichts der Weite und Gleichgültigkeit des Wassers und des Himmels erfasst. Nach und nach entledigt er sich seiner Kleidung und seiner Wertsachen, weil sie ihn beim Schwimmen behindern. Nackt und schutzlos ist er dem fremden Element ausgeliefert. Alles, was ihm bisher wichtig erschien, verliert an Bedeutung. „Aber jetzt sah er deutlich, dass das Leben kostbar, dass alles andere, Liebe, Geld, Ruhm, ein Schwindel war, wenn man es mit der großen Güte verglich, einfach nicht zu sterben.“
Herbert Clyde Lewis bringt in „Gentleman über Bord“ ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das einige Jahre später, in den 1940-er Jahren, von Philosophen wie Sartre und Camus in Begriffe gefasst wurde. Der einsame Mensch in der Unendlichkeit des Ozeans - das ist ein eindrucksvolles Bild für die „Geworfenheit“ des Einzelnen, wie es im Existentialismus heißt.
Lilly Munzinger, Gauting
Herbert Clyde Lewis
„Gentleman über Bord“
Mare Verlag