Und diese instrumentale Anomalie damals verzaubert auch heute noch, über viereinhalb Jahrzehnte später. ECM hat dieses Azimuth-Juwel in seiner Vinyl-Reihe „Luminessence“ noch einmal veröffentlicht und nun dürfen auch alle Spätgeborenen und die, die diese Musik lange nicht gehört haben, dieses Kleinod an Eleganz und Behutsamkeit neu entdecken. Sich erfreuen an dem stillen Zauber, der sich hier entfaltet, überdauernd mit seinen ihrer Zeit vorauseilenden elektronischen Schleifen von John Taylor, einem Solitär an der schwarz-weißen Tastatur, der pathosfrei jeden Flügel zum Schwingen brachte.
Die Titel, allesamt vom Gespann Winstone/Taylor geschrieben, klingen oft wie Codes aus anderen Welten, wie die Musik zu zeitlosen Reisen eines Raumschiffes in ferne Regionen.
Norma Winston hat als Jazzsängerin immer ihre eigene Kunst entwickelt, nie hat sie amerikanische Jazzeusen kopiert und schon gar keine artistischen Überspitzungen bemüht. Sie brachte ihre tief im Menschlichen verwurzelte Stimme ein, nicht unbedingt Worte oder Inhalte. Es sind eher weiche, sanfte Laute, mit der sie jeden Song vocal gestaltete, ihm einen besonderen Wiedererkennungswert gab. Oft der klassischen Moderne näher, als den Traditionalisten der Szene. Und dann wäre noch Kenny Wheeler, gestählt in den Avantgarde-Bezirken der 1970er Jahre um Alexander von Schlippenbach oder davor durch Schlagzeuger John Stevens und seinem Spontaneous Music Ensemble. Doch im Grunde seines Herzens war er immer ein Poet am Instrument, ein Lyriker am Flügelhorn, der eben auch mit der Trompete zu attackieren verstand.
Mit weitem Atem machte Azimuth hörbar, wozu auch ungewöhnlichere Besetzungen musikalisch in der Lage sind. Dass es noch Folgealben dieses Jahrhundert-Trios geben sollte, war damals mehr ein frommer Wunsch – der in München, wie es schien, nur wenig später erhört wurde. Doch die erste Aufnahme diente im wahrsten Sinne des Wortes (und des Covers) der Verortung und Orientierung. Eine Traumplatte.
Jörg Konrad
Azimuth
„Azimuth“
ECM
„Azimuth“
ECM
Vinyl