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37. Ian McEwan „Lektionen“
38. Andrea Wulf „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindun...
39. Pier Paolo Pasolini „Land der Arbeit“
40. Claire Keegan "Kleine Dinge wie diese"
41. Honoré de Balzac „Cousine Bette – Die Rache einer Frau“
42. George Saunders „Bei Regen in einem Teich schwimmen“
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Freitag 10.02.2023
Ian McEwan „Lektionen“
Das Besondere an Ian McEwans neuem Roman ist, dass er im Grunde wenig Neues erzählt. Die Rahmenhandlung in „Lektionen“ besteht aus europäischen Streifzügen durch die letzten Jahrzehnte. McEwan stellt das Leben seiner Hauptperson, wie das seiner eigenen Generation, in die Abfolge von geschichtlichen und politischen Ereignissen. Roland Baines, anfangs verheiratet und Vater eines Sohnes, gehört eher zu den entscheidungsarmen Zeitgenossen, die zwar einiges Talent in sich tragen (Barpianist, Tennisspieler und Gelegenheitsautor), doch letztendlich diese Anlagen, auch aufgrund etlicher persönlicher Zweifel, Unsicherheiten und Aufgabenbereiche, in keine berufliche, oder sonst wie geartete Karriere einfließen lassen.
Es wird beschrieben, wie Roland Baines in seinem Leben als alleinerziehender Vater mit entscheidenden gesellschaftlichen Themen konfrontiert wird - oder diese flüchtig streift - so dass anfangs immer der Anschein entsteht, der Handlung fehle es an klärender Tiefe, an mitreißender Spannung. Alles bleibt, trotz gewisser Ereignisse und Vorfälle, an der Oberfläche emotionaler Verarbeitungen.
Hinzu kommen Zeitsprünge, die ebenso dazu beitragen, keine wirklich fesselnde Stimmung in Form von dramaturgisch mitreißenden Atmosphären aufkommen zu lassen. Es gibt Bezüge zum 2. Weltkrieg, zum Widerstandskampf der Weißen Rose, zur Stationierung von Atomraketen auf Kuba, zur Teilung Deutschlands und dem Fall der Mauer, zur Aufarbeitung der Stasidiktatur und der RAF-Historie, zur Tschernobyl-Katastrophe, der Zunahme von demenziellen Krankheiten, die Klimakatastrophe, natürlich zum Brexit, bis hin zu den gesellschaftlichen Verwerfungen in Bezug auf die Coronapandemie und den dazugehörigen Lockdowns. Man möchte ausrufen: Weniger wäre wahrscheinlich mehr.
Doch dann gelingt es McEwan, nach gut der Hälfte des Buches, die unterschiedlichen, meist kurz gewebten und wieder fallengelassenen Maschen aufzuheben, sie zu bündeln und alles untereinander wieder neu zu verknüpfen. Plötzlich bietet das Buch zwischen Rückblicken und Horizonten Ereignisse, bekommen die Gesichter deutlichere Charaktere, scheint das Trauma des frühen kindlichen Missbrauchs der Hauptfigur in der Folge eine konkretere Rolle zu spielen. Konflikte werden real spürbarer, deren Bearbeitungen fesseln ungemein. Baines erlernt, erkennt und verarbeitet letztendlich die Lektionen seines Lebens.
Behauptet man, dieses Buch handele vom Altern, so ist dies genauso richtig, wie die Geschichte auch als ein Beleuchten und Aufarbeiten des eigenen Lebens verstanden werden kann. Denn mit den steten Rückblicken und wiederum deren Verknüpfung mit der Gegenwart, kann man „Lektionen“ auch als eine Art Lebensanalyse lesen - in emotionaler Offenheit geschrieben und durch wohltuendes Fehlen jedes moralischen Anspruchs brillant in der Wirkung.
Doch „Lektionen“ ist auch ein Buch über Beziehungen, die sich innerhalb und außerhalb der eigenen Familie abspielen und von bestimmten gesellschaftlich determinierten Zeiten und politischen Geschehnissen abhängig zu sein scheinen. Jedes Miteinander wird auf harte Proben gestellt, Differenzen korrigiert oder ausgelebt. Bleiben sie ungeahnt, verändern sich Beziehungen für den Rest des Lebens. Die Familie als Herausforderung und Chance zugleich.
Jörg Konrad

Ian McEwan
„Lektionen“
Diogenes
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Dienstag 17.01.2023
Andrea Wulf „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“
Die deutsch-englische Kulturhistorikerin Andrea Wulf hat mit ihrem Buch über Alexander von Humboldt, das vor einigen Jahren erschienen ist, einen internationalen Bestseller geschrieben. Nun hat sie sich einer Gruppe von Dichtern und Philosophen zugewendet, zu denen Alexander von Humboldt immer wieder engen Kontakt hatte. In „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ erzählt sie von dem sogenannten Jenaer Kreis, der in wenigen Jahren das deutsche Geistesleben revolutioniert hat.
Andrea Wulf versteht es fabelhaft, Philosophie- und Literaturgeschichte lebendig zu machen. Mit ihrem erzählerischen Ansatz fühlt sie sich in die Zeit ein, schildert anschaulich, detailreich und empathisch die Kleinstadt Jena um 1800 und die jungen visionären Denker, die sich hier versammelten, die diskutierten und schrieben, sich liebten und stritten, und die alle den Wunsch hatten, die Welt zu verändern. Es war, wie Wulf sagt, „der turbulenteste Freundeskreis der Geistesgeschichte“.
Im 18. Jahrhundert wurden die Länder Europas absolutistisch regiert. Deutschland zerfiel in mehr als 1500 Einzelstaaten, in denen die Macht von Fürsten, Herzögen und Bischöfen ausgeübt wurde. In diese durch Kirche und Staat reglementierte Ordnung, die von ihren Untertanen absoluten Gehorsam verlangte, brachen Ende des Jahrhunderts die Ideale der Französischen Revolution ein. Die Idee der Freiheit kam in die westliche Welt.
In den 1790-er Jahren übte Jena auf junge Dichter und Denker eine besondere Anziehungskraft aus. Die Universität galt als die liberalste in ganz Deutschland. In Jena lebte Schiller, und der von allen bewunderte Goethe kam aus dem benachbarten Weimar häufig zu Besuch. Er war es auch, der eine Professur von Johann Gottlieb Fichte in Jena befürwortete. Vor begeisterten Studenten entfaltete Fichte nun seine Gedanken. Er bezeichnete die Französische Revolution als „hereinbrechende Morgenröthe“ eines neuen Zeitalters. Der Philosoph erklärte das Ich zum Ausgangspunkt aller Erkenntnis.
Die geistige Elite Deutschlands folgte Fichte nach Jena. Alle stellten sie die Freiheit des schöpferischen, selbstbestimmten Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens, Schaffens und Lebens. Zu den jungen Rebellen gehörten Wilhelm und Caroline von Humboldt, der Sprachwissenschaftler Wilhelm August Schlegel, seine Frau Caroline und sein Bruder Friedrich, die Schriftstellerin Dorothea Veit, der Dichter Novalis und die Philosophen Schelling und Hegel. Caroline Schlegel nannte Jena „das Königreich der Philosophie“, und das Haus, das sie zusammen mit ihrem Mann bewohnte, war das Zentrum des Kreises.
Andrea Wulf hat für ihre Recherche unzählige Briefe und Zeitdokumente ausgewertet. Alle Äußerungen sind belegt, und doch liest sich ihr Buch nie trocken. Im Gegenteil, der Autorin ist ein mitreißendes Bild von Carolines Salon gelungen und von dem Enthusiasmus, der alle beflügelte.
Die frühen Romantiker beklagten die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung. Der einseitigen Betonung von Vernunft und Nützlichkeit setzten sie Phantasie, Gefühl und Spiritualität entgegen, und sie postulierten die Einheit von Kunst und Wissenschaft, von Mensch und Natur.
Zum Jenaer Kreis gehörten einige hochgebildete Frauen, die sich häufig über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzten. Caroline Schlegel, später verheiratete Schelling, ist für Andrea Wulf die „Inkarnation des ermächtigten freien Ich“. Als junge Witwe wurde sie, schwanger von einem französischen Soldaten, wegen ihrer Sympathien für die Französische Revolution für einige Monate inhaftiert. Vor der gesellschaftlichen Ächtung bewahrte sie die Ehe mit August Wilhelm Schlegel, mit dem sie Shakespeares Dramen ins Deutsche übersetzte. Als der wesentlich jüngere Philosoph Friedrich Schelling nach Jena zog, lebte sie mit ihm in einer offenen Beziehung, die von ihrem Mann geduldet wurde. Skandale, offene Ehen, erotische Libertinage waren überhaupt kennzeichnend für die Frühromantiker. Der Dichter Ludwig Tieck nannte den Haushalt der Schlegels einmal „eine einzige Schweinewirtschaft“.
Natürlich konnte das Zusammenleben der jungen Individualisten keinen Bestand haben. Neid, Eifersucht, heftige Streitereien entzweiten die Gruppe. Doch ihre Ideen wirkten weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Französische, englische, amerikanische, russische Dichter und Künstler wurden von ihnen beeinflusst, wie Andrea Wulf darlegt. Sie ließen sich von Schellings Gedanken der Einheit von Geist und Materie oder von Alexander von Humboldts Vorstellung von der Natur als lebendigem Organismus inspirieren. Die Idee vom selbstbestimmten Ich und dem freien Willen, wie Fichte sie formuliert hat, prägt unser Selbstverständnis bis heute.
Lilly Munzinger, Gauting

Andrea Wulf
„Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“
C. Bertelsmann
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Montag 02.01.2023
Pier Paolo Pasolini „Land der Arbeit“
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Pier Paolo Pasolini war als Filmemacher Autodidakt. Ebenso als Lyriker. Als Poet von Haus aus Zweifler – aber auch Kämpfer.
Der leidenschaftliche Lehrer wurde aus dem amtlichen Schuldienst entfernt, als praktizierender Kommunist schloss ihn die KPI aus ihren Reihen aus. Sein Leben spielte sich ab zwischen intellektueller Poesie und sozialkritischem Engagement, zwischen dem Leben auf dunklen Hinterhöfen und Latrinen und dem gleißenden Licht öffentlicher Scheinwerfer, zwischen Politik und Religion. Er war als Künstler zutiefst gespalten, ebenso als Mensch - jedoch kompromisslos in seinem Tun. Bei aller Tragik der Zerrissenheit ideale Voraussetzungen um als Dichter zu leben und zu sterben.
Wolf Wondratscheck und Christian Reimer haben für das vorliegende Projekt etliche unterschiedliche Pasolini-Texte ausgewählt. Diese zeigen zumeist die Unerbittlichkeit seiner geistigen Freiheit, aber auch den sinnlichen Zweifel seiner Gedanken und deren beinahe greifbare Melancholie. In ihnen ist ein unbefriedigtes Verlangen, eine Sehnsucht nach innerem Frieden und Kompensation von Ungerechtigkeit und Skepsis zu spüren. Die ihm die Realität jedoch nicht zu bieten versteht. Zugleich weiß Pasolini aber auch, dass diese Gegensätze der Motor seines gesamten Tuns sind
1963 bittet er in einem Brief den russischen Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko die Rolle des Christus in dem Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ anzunehmen. Es ist ein fast zärtliches Werben um den Dichter und Kommunisten Jewtuschenko, dieses Engagement anzunehmen. Dahinter steht Pasolinis damalige Überzeugung, Jesus verkörpere in seiner sozialen und menschlichen Gerechtigkeit den Gedanken des Kommunismus. Später wusste er es besser.
Aber in diesem beinahe flehentlichen Bitten, dem die eigene Grundüberzeugung eines Gedankens zugrunde liegt, an dem er jedoch schon damals beginnend zweifelte, zeigt sich seine obessive Unbeirrbarkeit, die ihm das Leben oft erschwerte.
In Christian Reiner haben sich Wondratscheck als auch Manfred Eicher für einen Sprecher entschieden, der all diese Gegensätze und Überzeugungen, die Leidenschaftlichkeiten und die Sehnsüchte, die Brüche und die Visionen stimmlich ergreifend ausdrückt. Und dass man sich bei der Produktion eines Musiklabel, wie in diesem Fall gegen jeden gespielten klanglich eingebrachten Ton entschieden hat, macht die Aufnahme um so bemerkenswerter. Pasolini pur.
Jörg Konrad

Pier Paolo Pasolini
„Land der Arbeit“
Christian Reiner
ECM
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Dienstag 13.12.2022
Claire Keegan "Kleine Dinge wie diese"
Claire Keegan
"Kleine Dinge wie diese"

Im Jahr 1993 machte man auf dem ehemaligen Grundstück eines irischen Nonnenklosters eine grausige Entdeckung: Man fand ein Massengrab, in dem die Leichen von fast 800 Babys verscharrt worden waren. Dadurch wurden Gerüchte bestätigt, die es schon lange über die sogenannten Magdalenenwäschereien gegeben hatte. Das waren kirchliche Besserungsanstalten, die vor allem in Irland entstanden waren. Hier sollten „gefallene“ Mädchen und ledige Mütter nach dem Vorbild der reuigen Sünderin Maria Magdalena auf den rechten Weg geführt werden. Die jungen Frauen wurden von den Nonnen wie Sklavinnen gehalten. Sie mussten in Wäschereien ohne Lohn schuften, waren unterernährt und verwahrlost. Ihre Babys wurden ihnen weggenommen. Viele Kinder gab man zur Adoption frei, tausende starben in den Klöstern an Hunger und Krankheiten. Die letzte Magdalenenwäscherei wurde erst 1996 geschlossen. Bis heute ist das Ausmaß des ungeheuerlichen Skandals noch nicht vollständig aufgeklärt.
Dieses dunkle Kapitel der katholischen Kirche in Irland bildet den Hintergrund für Claire Keegans Roman „Kleine Dinge wie diese“. Die Autorin wurde 1968 in Irland geboren und zählt heute zu den wichtigsten Schriftstellerinnen ihres Landes.
„Kleine Dinge wie diese“ ist ein schmales und dennoch überwältigendes Buch, das zentrale Lebensthemen anspricht. Die Autorin stellt die dramatischen und grausamen Ereignisse nicht aus; sie macht Bill Furlong zum Mittelpunkt ihres Buches, einen Kohlenhändler Ende dreißig, der mit seiner Frau und fünf wohlgeratenen Töchtern in einer irischen Kleinstadt lebt. Aus seiner Perspektive erzählt sie die Geschichte, einfühlsam und differenziert schreibt sie von seinen Fragen an das Leben. Es kommt Keegan nicht in erster Linie darauf an, seelische Grausamkeit und menschliches Leid zu schildern, sondern darauf, wie Menschen reagieren, die Zeugen des Unrechts werden. Schauen sie weg, oder finden sie zu Mut und Hilfsbereitschaft?
Furlong wurde als uneheliches Kind eines erst 16-jährigen Mädchens geboren. Doch die Arbeitgeberin seiner Mutter, eine wohlhabende protestantische Witwe, beschäftigte die junge Frau weiter und kümmerte sich um ihr Kind. Ihr hat es Furlong zu verdanken, dass er sich hocharbeiten und in Zeiten wirtschaftlicher Rezession zu bescheidenem Wohlstand gelangen konnte. Er ist ein gutherziger, arbeitsamer Mann, dessen Hauptsorge seiner Familie gilt und der weiß, wie zerbrechlich sein Glück ist. Als er kurz vor Weihnachten des Jahres 1985 Kohlen in das Nonnenkloster liefern will, das als gewaltiges Gebäude hoch über der Stadt thront, hat er ein verstörendes Erlebnis. Im Kohlenschuppen entdeckt er eine völlig verängstigte junge Frau, die offenbar seit Tagen dort eingesperrt ist und ihn nach ihrem Baby fragt. Er bringt sie zu den Nonnen vom Guten Hirten zurück, aber sein Gewissen lässt ihn nicht los. In präzisen, knappen Beobachtungen erzählt Keegan von der Krise, in die Furlong gerät, und die ihn nach dem Sinn seiner ganzen Existenz fragen lässt. Die Natur wird zum Spiegel seines Seelenlebens und der düsteren Ereignisse, schwarze Saatkrähen und der dunkle Fluss sind häufig wiederkehrende Motive. Soll Furlong auf seine Frau hören und nicht weiter nachgrübeln? Wie alle anderen in seiner Umgebung aus Angst die Tatsachen verdrängen? Das Kloster ist ein wichtiger Arbeitgeber, und seine Töchter besuchen die Nonnenschule. Sich gegen die mächtige, einflussreiche Kirche zu stellen, könnte seine wirtschaftliche Sicherheit und gesellschaftliche Stellung in der Stadt gefährden. Doch was wäre aus ihm geworden, wenn ihn einst die Witwe nicht unterstützt hätte? Wären seine Mutter und er nicht auch in der Klosterwäscherei gelandet? Hatte es einen Sinn zu leben, wenn man einander nicht half? Furlong muss sich entscheiden. Ein alter Mann, den er am Straßenrand nach dem richtigen Weg fragt, antwortet ihm: “Diese Straße, mein Sohn, führt dich, wohin du nur willst“.
Claire Keegan stellt sich in ihrem Buch ganz bewusst in die Tradition von Charles Dickens. Als Kind hat Furlong die „Weihnachtsgeschichte“ gelesen. Wie bei Dickens geht es in „Kleine Dinge wie diese“ um Gut und Böse und um die Frage, welchen Weg man einschlägt.
Die Autorin schildert in ihrem Roman einen Menschen, der die Verbrechen in seinem Umfeld nicht mehr ignorieren kann und der die Kraft hat, seinem Gewissen zu folgen. Es ist eine ergreifende, völlig unsentimentale Weihnachtsgeschichte, die Mut macht, weil sie daran glaubt, dass sich der Mensch trotz allem für das Richtige entscheiden kann.
Lilly Munzinger, Gauting
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Montag 28.11.2022
Honoré de Balzac „Cousine Bette – Die Rache einer Frau“
Balzac beherrscht das Komponieren und Schreiben von Literatur wie nur wenig andere. Am vorliegenden Roman „Cousine Bette – Die Rache einer Frau“, ein Buch dass jetzt in neuer Übersetzung von Nicola Denis vorliegt, wird dies einmal mehr besonders deutlich. Es ist die Geschichte der Lisbeth Fischer, eben jener Cousine Bette, die es, als ehemalige Fabrikbesitzerin aus der Provinz stammend, ins Paris der 1840er Jahre verschlägt. Der Grund ihres Umzugs ist die wirtschaftliche Insolvenz. In der französischen Hauptstadt lebt ein Teil ihrer Familie in relativem Wohlstand, der jedoch aufgrund von Verschwendungssucht und der „Jagd“ der (Ehe-)Männer auf immer neue amouröse Abenteuer, langsam aber sicher schwindet. Bettes Cousine Adeline und ihr Hausstand ist so etwas wie ihr neuer gesellschaftlicher Dreh- und Angelpunkt. Doch hier nimmt man Bette nicht ernst, verlacht sie aufgrund ihres Aussehens und altjüngferlichen Auftretens und spannt ihr den Liebhaber, der mehr ihrer Fantasie entspringt und den sie als Künstler großzügig zu fördern sich vorgenommen hat, spannt ihr eben diesen Wenceslas niederträchtig aus.
An dieser Stelle beginnt der Rachefeldzug von Bette. Unglaubliche Intrigen werden gesponnen, die Menschen in ihren Eitelkeiten und seelischen Abgründen schonungslos entlarven. Balzac zeichnet ein zum Teil verheerendes Bild der damaligen Gesellschaft. Frauen sind allein auf der Suche nach Prunk, finanziellem Reichtum und gesellschaftlicher Anerkennung. Die Männer befinden sich fast ausschließlich auch der Suche nach (jungen) Geliebten, brauchen hierfür Geld und sind sich auch moralisch nicht zu schade, aufgrund von erotischen Verwicklungen und Ehedramen ihre Persönlichkeit und auch gesellschaftliche Stellung zu ruinieren.
Balzac schildert in beeindruckender Sprache, analytisch, hochintelligent, als auch humorvoll die Verflechtungen, Einflüsse und Abhängigkeiten der Personen untereinander. Er legt die Geschichte wie ein Spinnennetz an, verknüpft die einzelnen Handlungsstränge geschickt miteinander, führt sie weiter aus, so dass am Ende ein atemloses Panorama tragisch komischer Figuren innerhalb einer aus den Fugen geratenen kapitalistischen Gesellschaft entsteht.
Zudem bekommt der Leser einen Einblick in die städtischen Verhältnisse Frankreichs im 19. Jahrhundert.
Nicola Denis hat diesen Roman menschlicher Abgründe als ein Sittengemälde, Gesellschaftskritik und Teil der „Comédie Humaine“ („Die menschliche Komödie“) grandios übersetzt. Ihr ist es mit zu verdanken, das „Cousine Bette - Die Rache einer Frau“ auch heute ein wirkliches Lesevergnügen ist und uns Balzac als einen modernen, aufklärerischen und bissigen Autor neu vermittelt.
Lutz Erxleben

Honoré de Balzac
„Cousine Bette – Die Rache einer Frau“
Matthes & Seitz
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Dienstag 08.11.2022
George Saunders „Bei Regen in einem Teich schwimmen“
Der amerikanische Autor und Universitätsdozent George Saunders ist ein leidenschaftlicher Literaturenthusiast. Er ist überzeugt davon, dass Lesen die Menschen offener und großzügiger macht - und ihr Leben interessanter.
George Saunders wurde 1958 in Texas geboren. Er hat zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht; für seinen ersten Roman „Lincoln im Bardo“ wurde er 2017 mit dem Man Booker Prize und zahlreichen anderen Preisen ausgezeichnet. Auch in Deutschland war das wunderbare Buch ein großer Erfolg.
Seit über zwanzig Jahren unterrichtet Saunders Kreatives Schreiben an einer Universität in den USA. Aus den Kursen mit seinen Studenten ist nun ein Buch hervorgegangen, das den schönen Titel trägt: „Bei Regen in einem Teich schwimmen“. Der Untertitel verdeutlicht, worum es dem Autor geht: “ Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen“. Sieben Erzählungen von großen russischen Autoren des 19. Jahrhunderts hat Saunders ausgewählt, Erzählungen von Tschechow, Turgenjew, Tolstoi und Gogol; alle sind vollständig im Buch abgedruckt. Nach jeder Geschichte folgt ein Essay von Saunders, in dem er handwerkliche Erklärungen zum Text gibt und Interpretationsvorschläge macht. Nie schreibt er trocken oder schulmeisterlich, sondern immer leicht, subtil und humorvoll, aufgelockert durch persönliche Erlebnisse beim Schreiben, Lesen und Unterrichten. Dabei spürt man aber an der Präzision der Analysen die Ernsthaftigkeit seines Anliegens, ein größeres Verständnis für Literatur zu vermitteln. Das kann Saunders mit der Wahl des Buchtitels gemeint haben, einem Zitat aus einer Erzählung von Anton Tschechow: das Vergnügen beim Schwimmen und Tauchen besonders bei Regen steht für die Freude, die man beim tiefen Eintauchen in gute Bücher empfinden kann.
Obwohl ihre Geschichten still und unpolitisch wirken, sind die russischen Autoren des 19. Jahrhunderts für Saunders „progressive Reformer in einer repressiven Kultur“. Im Zarenreich waren sie durch Zensur und Strafen bedroht. Ihr Widerstand erwuchs aus dem „vielleicht radikalsten Gedanken, den es gibt: dass jedes Menschenwesen Aufmerksamkeit verdient“. Diese zutiefst humane Grundhaltung ist es, neben ihrer schriftstellerischen Meisterschaft, die Saunders an den russischen Erzählern so bewundert. Er bringt uns heutigen Leserinnen und Lesern diese Giganten einer lange vergangenen Epoche nahe und belegt ihre Aktualität.
George Saunders ist ein begnadeter Pädagoge, der uns in seinem Buch Schritt für Schritt durch die Erzählungen führt, unsere Aufmerksamkeit schärft, uns genaueres Lesen und besseres Verständnis lehrt. Dabei geht es ihm zunächst um das Handwerkliche. Wie schafft es eine Geschichte, uns hineinzuziehen und uns dazu zu bringen, sie zu Ende zu lesen? Saunders formuliert einige Grundprinzipien, von denen das wichtigste ist, dass die Form einer Erzählung effizient sein muss. Das heißt, dass es nichts Überflüssiges geben darf, dass jedes Element eine Bedeutung für den Text in sich tragen muss, die mit dem Sinn des Ganzen zusammenhängt.
In seinen äußerst erhellenden Interpretationen, in denen er zum Kern der Geschichten vordringt, würdigt Saunders liebevoll und genau die Besonderheiten jedes einzelnen Schriftstellers. Allen Autoren gemeinsam aber ist, wie er sagt, dass ihre Erzählungen im Tiefsten berühren, dass sie die Leserin und den Leser verändern können. In „Auf dem Wagen“ von Anton Tschechow z.B. lernen wir eine russische Lehrerin kennen, ihre Einsamkeit und einen kurzen Moment des Glücks. Durch eine virtuose Innenschau erreicht Tschechow, dass wir in ihre Gedankenwelt eintauchen, dass wir uns mit ihr identifizieren, mit ihr mitleiden und dadurch auch mehr Verständnis und Mitgefühl für andere Menschen in unserem Umfeld entwickeln können.
„Bei Regen in einem Teich schwimmen“ von George Saunders ist nicht nur eine ebenso unterhaltsame wie fundierte Anleitung zum besseren Lesen und Schreiben, sondern auch eine Schule der Empathie.
Lilly Munzinger, Gauting

George Saunders
„Bei Regen in einem Teich schwimmen“
Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen
Luchterhand
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Autor: Siehe Artikel
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