Es wird beschrieben, wie Roland Baines in seinem Leben als alleinerziehender Vater mit entscheidenden gesellschaftlichen Themen konfrontiert wird - oder diese flüchtig streift - so dass anfangs immer der Anschein entsteht, der Handlung fehle es an klärender Tiefe, an mitreißender Spannung. Alles bleibt, trotz gewisser Ereignisse und Vorfälle, an der Oberfläche emotionaler Verarbeitungen.
Hinzu kommen Zeitsprünge, die ebenso dazu beitragen, keine wirklich fesselnde Stimmung in Form von dramaturgisch mitreißenden Atmosphären aufkommen zu lassen. Es gibt Bezüge zum 2. Weltkrieg, zum Widerstandskampf der Weißen Rose, zur Stationierung von Atomraketen auf Kuba, zur Teilung Deutschlands und dem Fall der Mauer, zur Aufarbeitung der Stasidiktatur und der RAF-Historie, zur Tschernobyl-Katastrophe, der Zunahme von demenziellen Krankheiten, die Klimakatastrophe, natürlich zum Brexit, bis hin zu den gesellschaftlichen Verwerfungen in Bezug auf die Coronapandemie und den dazugehörigen Lockdowns. Man möchte ausrufen: Weniger wäre wahrscheinlich mehr.
Doch dann gelingt es McEwan, nach gut der Hälfte des Buches, die unterschiedlichen, meist kurz gewebten und wieder fallengelassenen Maschen aufzuheben, sie zu bündeln und alles untereinander wieder neu zu verknüpfen. Plötzlich bietet das Buch zwischen Rückblicken und Horizonten Ereignisse, bekommen die Gesichter deutlichere Charaktere, scheint das Trauma des frühen kindlichen Missbrauchs der Hauptfigur in der Folge eine konkretere Rolle zu spielen. Konflikte werden real spürbarer, deren Bearbeitungen fesseln ungemein. Baines erlernt, erkennt und verarbeitet letztendlich die Lektionen seines Lebens.
Behauptet man, dieses Buch handele vom Altern, so ist dies genauso richtig, wie die Geschichte auch als ein Beleuchten und Aufarbeiten des eigenen Lebens verstanden werden kann. Denn mit den steten Rückblicken und wiederum deren Verknüpfung mit der Gegenwart, kann man „Lektionen“ auch als eine Art Lebensanalyse lesen - in emotionaler Offenheit geschrieben und durch wohltuendes Fehlen jedes moralischen Anspruchs brillant in der Wirkung.
Doch „Lektionen“ ist auch ein Buch über Beziehungen, die sich innerhalb und außerhalb der eigenen Familie abspielen und von bestimmten gesellschaftlich determinierten Zeiten und politischen Geschehnissen abhängig zu sein scheinen. Jedes Miteinander wird auf harte Proben gestellt, Differenzen korrigiert oder ausgelebt. Bleiben sie ungeahnt, verändern sich Beziehungen für den Rest des Lebens. Die Familie als Herausforderung und Chance zugleich.
Jörg Konrad
Ian McEwan
„Lektionen“
Diogenes
„Lektionen“
Diogenes