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19. Marianne Schneider / Lothar Schirmer „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...
20. „Woodstock am Karpfenteich II“ 50 Jahre Jazzwerkstatt Peitz
21. John Irving „Der letzte Sessellift“
22. Alois Berger „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“
23. Anne Rabe „Die Möglichkeit von Glück“
24. Ilona Haberkamp „Plötzlich Hip(p) - Das Leben der Jutta Hipp zwischen Ja...
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Dienstag 29.08.2023
Marianne Schneider / Lothar Schirmer „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“
Gedichte – sie haben auch heute noch eine enorme Wirkung und hinterlassen sowohl sprachliche als auch inhaltliche Spuren. Egal ob man sie Lyrik oder Poetry Slam nennt, ob sie über spirituelle Welten Aufschluss geben, oder reale Konflikte beschreiben, ob sie Wortneuschöpfungen kreieren oder mutig auf den Reim verzichten, ob sie im Mittelalter entstanden sind, oder die Zukunft beschreiben. Gedichte sind gegenwärtiger, als viele annehmen.
Marianne Schneider war viele Jahre als Mentorin, Lektorin und Übersetzerin für den Schirmer/Mosel-Verlag tätig. Nachdem sie im Februar dieses Jahres gestorben ist, hat sich der Verlag entschieden, einige ihrer Bücher neu zu editieren. Als erstes erscheint von ihr die Anthologie „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“, deren erstes Erscheinen auf das Jahr 2001 datiert. Auf über 180 Seiten hat Marianne Schneider hier deutsche Lyrik aus über fünf Jahrhunderten, vom Mittelalter bis in unsere Tage, zusammengetragen. Bei allen Texten handelt es sich um Blumengedichte, wobei die einzelnen Pflanzen benannt und beschrieben, ihre Ästhetik individuell nahe gebracht oder ihre sinnliche Wirkung veranschaulicht wird. Es handelt sich um Gedichte von Walther von der Vogelweide, Clemens Brentano, Novalis, Benn und Rilke, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Peter Rühmkorf und Friederike Mayröcker. Allen gemein ist die Schönheit und die Kraft der Sprache, mit der sie die einzelnen Schöpfungen und persönlichen Empfindungen dem Leser nahe bringen.
Und um diese lyrischen Spaziergänge durch die Welt der Botanik visuell zu unterstützen, haben Marianne Schneider und Lothar Schirmer aus dem reichen Fundus der Kunstgeschichte etliche Arbeiten ausgewählt, die jeweils eines der Gedichte augenscheinlich begleiten. Es handelt sich um verschiedene originelle Arbeiten internationaler Künstler und handkolorierte Stiche von Botanikern, von van Gogh bis Cy Twombly, von Basilius Besler bis Albrecht Dürer.
Man darf dieses wunderschöne und vorzüglich gestaltete Buch nicht nur als einen Klassiker des Verlags-Programm bezeichnen. „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“ darf zu recht auch als ein bedeutsames Buch bezeichnet werden.
Jörg Konrad

Marianne Schneider / Lothar Schirmer
„O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“
Schirmer/Mosel

Abbildungen:

- Albrecht Dürer, Schlüsselblumen, 1526 (?)
Aquarell- und Deckfarben

- Basilius Besler, Tulpen, 1613
Handkolorierter Kupferstich

- Cy Twombly, Ohne Titel, 1990,
Acrylzeichnung
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Dienstag 22.08.2023
„Woodstock am Karpfenteich II“ 50 Jahre Jazzwerkstatt Peitz
Es ist fünfzig Jahre her dass im brandenburgischen Peitz, einem Ort mit knapp viereinhalbtausend Einwohnern, 1973 das erste Konzert freier Musik unter dem Namen „Jazzwerkstatt“ über die Bühne ging. Ein Politikum in der DDR, vom ersten Tag an. Denn hier hatten keine Kulturfunktionäre, sondern einige vom Virus des Jazz leidenschaftlich Infizierte eine internationale Konzertreihe aus dem Boden gestampft. Zwar wurde von offizieller Seite dem (freien) Jazz seit Anfang der 1970er Jahre von der Kulturbürokratie das Existenzrecht zugebilligt, doch waren sowohl deren Ost- wie West-Protagonisten, als auch das Publikum in Peitz eine kunterbunte Gemeinschaft, denen die verordneten Ideale des Sozialismus völlig egal schienen. Und so gelang es den Organisatoren Peter „Jimi“ Metag und Ulli Blobel über neun Jahre hinweg diese Konzertreihe mit einem dazugehörigen Festival durchzuführen, zu dem teilweise bis zu 5000 Besucher aus allen Teilen des Landes strömten.
Dann zog sich die Schlinge zu. Die „Jazzwerkstatt“ Peitz wurde von staatlicher Seite verboten. Zugleich drängten die Behörden Ulli Blobel zur Ausreise aus der DDR. Er ging 1984 in den „Westen“, organisierte hier weiterhin Konzerte und gründete ein eigenes Plattenlabel.
2011 reaktivierte Blobel die Konzertreihe „Jazzwerkstatt“ am selben Ort. Seitdem finden hier, zwischen den Peitzer Karpfenteichen, wieder kontinuierliche Workshops freier Musik statt, die die Tradition mit großem Erfolg fortsetzen.
Anlässlich des 50. Jubiläums der „Jazzwerkstatt“ hat nun Blobel den zweiten Teil des Buches „Woodstock am Karpfenteich“ herausgegeben. Auch hier finden sich, wie bei dem Vorgängerband aus dem Jahr 2011, unterschiedliche Autoren, die aus verschiedenen Perspektiven Details und Anekdoten aus den Jahren und dem Umfeld der Jazzwerkstatt berichten. Zu ihnen gehören Christoph Dieckmann (Journalist und Autor), Günter „Baby“ Sommer (Schlagzeuger), Bert Noglik (Journalist, Autor), Helge Leiberg (Maler), Peter Ehwald (Musiker) und natürlich Blobel selbst. Zudem ist als „Archiv“ auf Plakaten und Fotos ein Überblick der Jazzwerkstatt-Konzerte der Jahre 2006 bis 2023 gegeben. Ein Buch das deutlich macht, dass der Jazz pulsiert und noch immer eine vitale Musik ist, die aufgrund ihrer Kraft und kreativen Unruhe lebt und Menschen weltweit vorurteilsfrei zusammenbringt.
Jörg Konrad

„Woodstock am Karpfenteich II“
50 Jahre Jazzwerkstatt Peitz
Jazzwerkstatt
Herausgegeben von Ulli Blobel
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Dienstag 15.08.2023
John Irving „Der letzte Sessellift“
Nach knapp 1000 Seiten findet sich in John Irvings neuem Roman „Der letzte Sessellift“ ein Schlüsselsatz, der im Grund exemplarisch den Zugang zum gesamten literarischen Werk des Amerikaners ermöglicht. Auf Seite 979 lässt Irving einen seiner Hauptfiguren, Mr. Barlow, auch die Schneeläuferin oder die Englischlehrerin genannt (wer bis hierher gelesen hat, weiß um die Verschiedenartigkeit der Namen und Figuren) sagen: „Es ist auch nicht das Anliegen eines Romans, niemanden zu nahe zu treten.“.
Irving selbst tritt in seinen Romanen allen und jedem zu nahe. Selten unbewusst und nie aus Bosheit, alles im Sinne der Story und seines Anliegens. Auch in „Der letzte Sessellift“, dieser Orgie an bizarren wie liebenswerten Personen, ist er an allen Figuren, gleich welchen Geschlechts und welcher Beziehung „ganz nah dran“. Es geht ihm einzig um die handelnden Individuen, ihr Verhalten untereinander und ihre Entscheidungen für den Plott. Ihn halten sie am Leben und bringen uns Lesern zugleich sein schier unerschöpfliches Reservoir an Menschlichkeit auf unnachahmliche Weise nahe. Was jedoch nicht bedeutet, das Irving nicht auch Haltung zeigt und wenn nötig auch amerikanischen Präsidenten gehörig die Leviten liest. Allen voran Donald Trump und Ronald Reagan, die der 81jährige Schriftsteller in seinem 15. Roman regelrecht zu einem Feindbild aufbaut. Mit Nachdruck und zu Recht!
Wir wollen an dieser Stelle nicht die ganze Handlung des Romans erzählen. Zu vielschichtig und zu komplex gestalten sich die fast 1200 Seiten. Außerdem würden wir uns mit Sicherheit im launischen Dickicht eigenwilliger Sexualität verlaufen. Man taucht in Irvings Geschichten Hals über Kopf ein und es kann schon sein, dass man zwischenzeitlich auftauchen muss, um Luft zu schöpfen, um sich verwundert die Augen zu reiben. Und vielleicht besteht auch kurzzeitig die Gefahr den Faden zu verlieren – obwohl Irving-Lesern starke Charakter nachgesagt werden, die sich in solchen Situationen zu verhalten wissen.
Ansonsten ist „Der letzte Sessellift“ ein in vieler Hinsicht vertrauter Irving-Roman, bei dem bekannte Situationen in die Abläufe eingearbeitet sind und der Wechsel zwischen urkomischen, provozierenden und kuriosen Geschehnissen wieder einmal reibungslos verläuft. Irving präsentiert den Lesern eine pralle, großherzige Geschichte, er unterhält und nimmt gefangen, macht Mut, stabilisiert und bestärkt letztendlich alle Menschen, denen ein freies und unkonventionelles Leben wichtig ist. Dabei entlarvt er lächerliche Konventionen und schafft wahre Heldenfiguren, die den alltäglichen Kampf um Menschlichkeit und Liebe bravourös bestehen.
Jörg Konrad

John Irving
„Der letzte Sessellift“
Diogenes
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Dienstag 08.08.2023
Alois Berger „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“
Ein jüdisches Schtetl mitten im Land der Täter? Und das nur wenige Wochen/Monate nach dem Ende eines Genozids? Nach diesem wohl grausamsten Verbrechen an Juden in der Geschichte der Menschheit!
Was so absurd klingt, hat es tatsächlich gegeben. In Föhrenwald, einem Ortsteil im oberbayrischen Wolfratshausen bei München haben nach dem Ende des 2. Weltkriegs 5000 Juden, Überlebende des Holocausts, eine vorläufige Bleibe gefunden. Etwas separiert vom Rest der Bevölkerung gab es hier zwischen 1945 und 1957 eine Siedlung mit Synagogen, Religionsschulen, auch einer kleinen Universität für die Ausbildung von Rabbinern. Der Ort hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jüdische Zeitung und eine eigene Polizei. Doch woher kamen diese Menschen mit diesem unfassbaren Leid?
Es waren zum Großteil Überlebende des Konzentrationslagers Dachau, die sich zum Teil auf dem sogenannten Todesmarsch in Richtung Alpen befanden, oder die völlig geschwächt und abgemagert, an Typhus und Tuberkulose erkrankt, zwischenzeitlich zur Genesung in die Lungenklinik Gauting verlegt wurden.
Zugleich war Föhrenwald ein Lager für Displaced Persons (DP), Menschen, die nicht in dieser Gegend beheimatet waren. Heimatlose (vornehmlich Juden), die hier eine Unterkunft fanden. Doch es war kein sicherer, von der deutschen Bevölkerung und der Bundes- wie Landesregierung akzeptierter Ort, an dem sich die Überlebenden vorbehaltlos ein neues Leben aufbauen konnten.
Alois Berger, freier Journalist und selbst in Wolfratshausen aufgewachsen, hat in „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ auf über 220 Seiten anhand von Erinnerungen, Interviews mit Zeitzeugen und anderen persönlichen Kontakten, sowie durch Recherche in den Archiven die Geschichte dieses beschämenden deutschen Nachkriegskapitels akribisch wie anschaulich zusammengetragen. Er beleuchtet auf bedrückende Weise die (antisemitische) Stimmung der Nachkriegszeit in Deutschland, die Vorbehalte deutscher Einheimischer gegenüber den eigenen Verbrechen.
1957 wurde das Schtetl Föhrenwald aufgelöst, die bis dahin dort noch lebenden Menschen wurden auf deutsche Großstädte verteilt – sofern sie nicht zwischenzeitlich in die USA und natürlich nach Israel ausgewandert waren. Selbst die Juden, die bleiben wollten, mussten gehen! Die Bayrische Landesregierung hatte das Areal ein Jahr zuvor an die katholische Kirche verkauft, die hier „katholische Heimatvertriebene“ mit ihren Familien ansiedelte.
Die nichtjüdische Gemeinde verdrängte dieses Thema erfolgreich über Jahrzehnte. Kaum jemand in Deutschland kannte Föhrenwald, geschweige denn das Schicksal der „Displaced Persons“. Selbst in Wolfratshausen wurde dieses Thema übergangen. Auch insofern ist Bergers „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ eine wichtige wie notwendige Aufarbeitung deutscher Nachkriegsgeschichte.
Jörg Konrad

Alois Berger
„Föhrenwald, das vergessene Schtetl“
Piper

Derzeit läuft im Münchner Stadtmuseum die Ausstellung „München Displaced. Heimatlos nach 1945“. Bis zum 07. Januar 2024 wird hier auf das vergessene Schicksal von etwa hunderttausend Displaced Persons (DPs), die sich 1945 in der Stadt befanden, verwiesen. „Erstmals wird die Nachkriegsgeschichte von ehemaligen Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangenen, politischen KZ-Häftlingen sowie Geflüchteten auf Basis einer breit angelegten Forschung für die Stadt und den Landkreis München dargestellt.“
Stadtmuseum München
St.-Jakobs-Platz 1
80331 München
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Montag 24.07.2023
Anne Rabe „Die Möglichkeit von Glück“
Stine und ihr kleiner Buder haben von der Mutter die Aufgabe bekommen, nasse Wäsche im neuen Trockner zu schleudern. Sie entdecken, dass es im ganzen Körper kitzelt, wenn man sich auf die Tonne legt. Ein lustiges Gefühl. Da springt die Badezimmertür auf. „Was ist hier los?“ ruft die Mutter. „Jetzt muss ich euch leider verhauen.“ „Du darfst nicht weinen. Sonst freut sie sich“ sagt Stine zu ihrem Bruder. Die Mutter verprügelt ihre Tochter, bis sie nicht mehr kann.
Die Dramatikerin, Lyrikerin und Essayistin Anne Rabe sieht als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit die Vergangenheitsbewältigung der DDR-Zeit. In ihrem autofiktionalen Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“ hat sie ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet. Wie Anne Rabe selbst wird Stine, die Protagonistin des Romans, im Jahr 1986 in einer kleinen Stadt an der Ostsee geboren, die man unschwer als Wismar identifizieren kann, und wie die Autorin verbringt sie hier ihre Kindheit und Jugend.
„Die Fragen, die Stine umtreiben, sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe.“
Als Stine eine Tochter bekommt, wird sie von Erinnerungen an ihre eigene Kindheit überschwemmt. Wie kann sie ihren Kindern die Wärme und Geborgenheit geben, die sie selbst als Kind so vermisst hat? Was hat sie selbst, ihre Familie, ihre Eltern und Großeltern geprägt? Wie wirkt sich bis heute die Sozialisation in einem totalitären System auf die Gesellschaft aus?
Stine stellt diese Fragen an sich selbst, an ihren Bruder, an alte Freundinnen und Freunde, sie besucht Ämter und Archive. All das hat die Autorin kaleidoskopartig in ihrem Buch niedergeschrieben, um endlich das Schweigen zu brechen, das in ihrer Familie und in so vielen anderen Familien bis heute herrscht.
Die Erinnerungen beginnen mit Stines Mutter, die in der DDR als Erzieherin und nach der Wende im Jugendamt arbeitet. Sie ist eine harte Frau mit sadistischen Zügen, vor der Stine noch als Erwachsene Angst hat. Ihren beiden Kindern will sie durch Demütigungen und körperliche Gewalt bedingungslosen Gehorsam und Disziplin einbläuen. Kopfnüsse und Schläge sind an der Tagesordnung, und einmal kann der Vater die Kinder gerade noch davor retten, dass sie sich in der Badewanne verbrühen, in die die Mutter sie zwingt. Stines Mutter ist sicherlich ein Extrembeispiel, aber in der Tendenz symptomatisch für den autoritären Erziehungsstil in einer Diktatur. Schon bei der Nationalsozialistin Johanna Harrer heißt es in ihrem berühmten Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“: „Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart.“ Angst statt Urvertrauen ist die Devise. In der DDR galt es, die Kinder schon früh dem Staat unterzuordnen, ihren Willen zu brechen und sie zu guten Sozialisten zu erziehen.
Anne Rabe zeigt in ihrem Roman, wie Methoden der schwarzen Pädagogik auch nach der Wende in Ostdeutschland weitergewirkt haben. Gewalt bestimmt auch Stines Schulalltag. Andersartige und Schwache werden von Lehrern und Schülern ausgegrenzt und gedemütigt, und auf dem Schulhof und dem Heimweg herrscht die Angst vor schlägernden „Nazis“.
Ein Beispiel für die oft mangelnde Bereitschaft im Osten Deutschlands, die DDR-Diktatur aufzuarbeiten, ist die Geschichte von Opa Paul, den Stine sehr geliebt hat. Nach seinem Tod will sie sich der schmerzlichen Frage stellen, inwieweit er in die Verbrechen des DDR-Regimes verstrickt war. Als 19-Jähriger musste er in Stalingrad kämpfen. Die DDR war für ihn das bessere Deutschland. Den Schießbefehl an der Mauer rechtfertigte er mit dem Argument, jedes Land habe das Recht, seine Grenze zu verteidigen. Opa Paul wurde Mitglied der SED und stieg zum Schuldirektor und Hochschuldozenten auf. Seine Hauptaufgabe sah er in der Propagandaarbeit für die Partei. Nach der Wende schweigt er über seine Vergangenheit; die DDR bleibt für die ganze Familie ein verlorener Sehnsuchtsort. Bis zu seinem Tod ist er überzeugt davon, das Richtige getan zu haben. „…Wie brutal die Gewalt der Diktatur war, für die er sich aufgerieben hat,… kann ich nicht vergessen“ – so Stine.
Doch der Roman endet mit einem hoffnungsvollen Ausblick. Stine beobachtet ihre Tochter und ihren Sohn beim Spielen. Anders als für ihre Herkunftsfamilie sieht sie für ihre Kinder eine Möglichkeit von Glück.
Anne Rabe hat ein sehr aktuelles Buch darüber geschrieben, wie ein totalitäres Regime die Menschen prägt, die in ihm leben.
Lilly Munzinger, Gauting

Anne Rabe
„Die Möglichkeit von Glück“
Klett-Cotta
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Dienstag 27.06.2023
Ilona Haberkamp „Plötzlich Hip(p) - Das Leben der Jutta Hipp zwischen Jazz und Kunst“
Ihr Stern leuchtete ganz plötzlich auf - wie aus dem Nichts. Und beinahe ebenso unvermittelt erlosch er wieder, kaum dass es jemand bemerkte.
Jutta Hipp war als emanzipierte Jazzpianistin eine Vorreiterin. Geboren 1925 in Leipzig studierte sie drei Jahre Graphik Design an der Staatlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, der heutigen Hochschule für Graphik und Buchkunst, die nach ihr Künstler wie Hartwig Ebersbach, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke oder Neo Rauch besuchten. Das Klavierspiel erlernte sie, nach kurzem (klassischem) Unterricht im häuslichen Umfeld, eher autodidaktisch. Sie begann schon während der Naziherrschaft in illegalen Jazzclubs zu spielen, war glücklich, als 1945 die US-Armee in Leipzig einzog (Jazzclubs gehörten plötzlich zum öffentlichen Stadtbild) und bitter enttäuscht, als drei Monate später die Sowjettruppen die Stadt an der Weißen Elster besetzten (und die Jazzclubs wieder in der Illegalität verschwanden).
Sie flüchtete 1945 nach Westdeutschland, spielte in München und Frankfurt/Main mit allen Größen der deutschsprachigen Szene (Rolf Kühn, Hans Koller, Attila Zoller, Albert Mangelsdorff), tourte durch Europa und erhielt von Leonard Feather, dem britischen Jazzmusiker, -journalisten und -produzenten, ein Angebot, in die USA überzusiedeln. Hier nahm sie als erste europäische Musikerin für das legendäre Blue Note Label unter eigenem Namen ein Album auf (mit Zoot Sims 1956), dem noch zwei weitere folgten.
Aufgrund von künstlerischen und persönlichen Differenzen mit ihrem Förderer Feather und der allgemeinen Situation des Jazz, trat sie immer weniger auf und arbeitete stattdessen als Näherin in einer New Yorker Kleiderfabrik. In ihrer Freizeit malte Jutta Hipp Aquarelle und Karikaturen, fotografierte in den Clubs und schrieb Gedichte. Beinahe vergessen starb sie 2003 in ihrer New Yorker Wohnung an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Ilona Haberkamp, Saxophonistin und Musikwissenschaftlerin, war schon in den 1980er Jahren von dieser musikalisch hochvirtuosen und für ihre Zeit so forsch auftretenden Jutta Hipp fasziniert. Sie knüpfte Kontakte und besuchte die einstige Pianistin 1986 erstmals in „ … ihrer winzigen aber gemütlichen Wohnung im New Yorker Stadtteil Queens ...“. Die Chemie zwischen beiden stimmte von Beginn an und so entwickelte sich eine Beziehung, die es Haberkamp ermöglichte, den Namen und das Werk Jutta Hipps wieder im kollektiven Gedächtnis, zumindest in Deutschland, zu verankern. Die Saxophonistin spielte Kompositionen der Pianistin ein, stellte historische Aufnahmen von ihr zusammen und veröffentlichte jetzt im Hofheimer Wolke Verlag „Plötzlich Hip(p) - Das Leben der Jutta Hipp zwischen Jazz und Kunst“.
Haberkamp gelingt es mit diesem Buch auf lesenswerte Art und voller Sensibilität ,Jazz- und Zeitgeschichte miteinander zu verknüpfen. Sie macht deutlich, was es bedeutete, sich als Frau in der Männerdomäne Jazz durchzusetzen, sich hier zu behaupten und sie beschreibt, dass dieser künstlerisch herausfordernde Weg eben auch tragisch scheitern kann. Denn immer wieder wurde Jutta Hipp besonders in den USA mit Vorurteilen konfrontiert und auch sexuell bedrängt, was letztendlich zu ihrer Alkoholsucht und dem künstlerischen Rückzug beigetragen hat.
Neben vielen Fotos enthält das Buch eine Reihe von liebevollen Aquarellen und Karikaturen bekannter Jazzmusiker. „Am glücklichsten bin ich auf meinen Natur-Trips, am Union Square füttere ich die Eichhörnchen, die mir aus der Hand fressen, am Mantel hochkrabbeln und in meine shoppingbag gucken“, schrieb sie 1995 an Wolfram Knauer, den Direktor des Jazzinstituts Darmstadt. Deutschland hat sie nie wieder besucht.
Jörg Konrad

Ilona Haberkamp
„Plötzlich Hip(p) - Das Leben der Jutta Hipp zwischen Jazz und Kunst“
Wolke Verlag Hofheim
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Autor: Siehe Artikel
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