Stine und ihr kleiner Buder haben von der Mutter die Aufgabe bekommen, nasse Wäsche im neuen Trockner zu schleudern. Sie entdecken, dass es im ganzen Körper kitzelt, wenn man sich auf die Tonne legt. Ein lustiges Gefühl. Da springt die Badezimmertür auf. „Was ist hier los?“ ruft die Mutter. „Jetzt muss ich euch leider verhauen.“ „Du darfst nicht weinen. Sonst freut sie sich“ sagt Stine zu ihrem Bruder. Die Mutter verprügelt ihre Tochter, bis sie nicht mehr kann.
Die Dramatikerin, Lyrikerin und Essayistin
Anne Rabe sieht als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit die Vergangenheitsbewältigung der DDR-Zeit. In ihrem autofiktionalen Debütroman „
Die Möglichkeit von Glück“ hat sie ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet. Wie Anne Rabe selbst wird Stine, die Protagonistin des Romans, im Jahr 1986 in einer kleinen Stadt an der Ostsee geboren, die man unschwer als Wismar identifizieren kann, und wie die Autorin verbringt sie hier ihre Kindheit und Jugend.
„Die Fragen, die Stine umtreiben, sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe.“
Als Stine eine Tochter bekommt, wird sie von Erinnerungen an ihre eigene Kindheit überschwemmt. Wie kann sie ihren Kindern die Wärme und Geborgenheit geben, die sie selbst als Kind so vermisst hat? Was hat sie selbst, ihre Familie, ihre Eltern und Großeltern geprägt? Wie wirkt sich bis heute die Sozialisation in einem totalitären System auf die Gesellschaft aus?
Stine stellt diese Fragen an sich selbst, an ihren Bruder, an alte Freundinnen und Freunde, sie besucht Ämter und Archive. All das hat die Autorin kaleidoskopartig in ihrem Buch niedergeschrieben, um endlich das Schweigen zu brechen, das in ihrer Familie und in so vielen anderen Familien bis heute herrscht.
Die Erinnerungen beginnen mit Stines Mutter, die in der DDR als Erzieherin und nach der Wende im Jugendamt arbeitet. Sie ist eine harte Frau mit sadistischen Zügen, vor der Stine noch als Erwachsene Angst hat. Ihren beiden Kindern will sie durch Demütigungen und körperliche Gewalt bedingungslosen Gehorsam und Disziplin einbläuen. Kopfnüsse und Schläge sind an der Tagesordnung, und einmal kann der Vater die Kinder gerade noch davor retten, dass sie sich in der Badewanne verbrühen, in die die Mutter sie zwingt. Stines Mutter ist sicherlich ein Extrembeispiel, aber in der Tendenz symptomatisch für den autoritären Erziehungsstil in einer Diktatur. Schon bei der Nationalsozialistin Johanna Harrer heißt es in ihrem berühmten Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“: „Versagt auch der Schnuller, dann, liebe Mutter, werde hart.“ Angst statt Urvertrauen ist die Devise. In der DDR galt es, die Kinder schon früh dem Staat unterzuordnen, ihren Willen zu brechen und sie zu guten Sozialisten zu erziehen.
Anne Rabe zeigt in ihrem Roman, wie Methoden der schwarzen Pädagogik auch nach der Wende in Ostdeutschland weitergewirkt haben. Gewalt bestimmt auch Stines Schulalltag. Andersartige und Schwache werden von Lehrern und Schülern ausgegrenzt und gedemütigt, und auf dem Schulhof und dem Heimweg herrscht die Angst vor schlägernden „Nazis“.
Ein Beispiel für die oft mangelnde Bereitschaft im Osten Deutschlands, die DDR-Diktatur aufzuarbeiten, ist die Geschichte von Opa Paul, den Stine sehr geliebt hat. Nach seinem Tod will sie sich der schmerzlichen Frage stellen, inwieweit er in die Verbrechen des DDR-Regimes verstrickt war. Als 19-Jähriger musste er in Stalingrad kämpfen. Die DDR war für ihn das bessere Deutschland. Den Schießbefehl an der Mauer rechtfertigte er mit dem Argument, jedes Land habe das Recht, seine Grenze zu verteidigen. Opa Paul wurde Mitglied der SED und stieg zum Schuldirektor und Hochschuldozenten auf. Seine Hauptaufgabe sah er in der Propagandaarbeit für die Partei. Nach der Wende schweigt er über seine Vergangenheit; die DDR bleibt für die ganze Familie ein verlorener Sehnsuchtsort. Bis zu seinem Tod ist er überzeugt davon, das Richtige getan zu haben. „…Wie brutal die Gewalt der Diktatur war, für die er sich aufgerieben hat,… kann ich nicht vergessen“ – so Stine.
Doch der Roman endet mit einem hoffnungsvollen Ausblick. Stine beobachtet ihre Tochter und ihren Sohn beim Spielen. Anders als für ihre Herkunftsfamilie sieht sie für ihre Kinder eine Möglichkeit von Glück.
Anne Rabe hat ein sehr aktuelles Buch darüber geschrieben, wie ein totalitäres Regime die Menschen prägt, die in ihm leben.
Lilly Munzinger, Gauting
Anne Rabe
„Die Möglichkeit von Glück“
Klett-Cotta