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13. Steffen Kopetzky „Damenopfer“
14. Franz Kafka „Die große Hörspiel-Edition“
15. Herbert Clyde Lewis „Gentleman über Bord“
16. Jahrhundertstimmen „1945 – 2000“
17. Patricia Görg „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“
18. Ulrich Woelk „Mittsommertage“
Bilder
Montag 13.11.2023
Steffen Kopetzky „Damenopfer“
Erst im Oktober dieses Jahres erschien in der ZEIT eine Reportage, die (ost-)europäische Nachtzüge zum Inhalt hatte. Ja, es gibt sie tatsächlich in unserer heutigen Zeit. Und laut dem Autor funktionieren diese Verbindungen tadellos und sind absolut empfehlenswert – zumindest wenn die Zielorte Rijeka, Prag oder Warschau lauten. Wer hier so leidenschaftlich und detailliert von diesen nächtlichen Abenteuern schwärmt, weiß wovon er spricht. Steffen Kopetzky jobte während seines Philosophiestudiums in München nämlich als Schlafwagenschaffner. „Ich studierte in Schwabing, aber die Bahnhofsviertel von Neapel, Paris, Florenz und Genua waren meine Spielplätze, wo ich schön langsam das Erwachsenenalter anzupeilen begann“, schreibt er und veröffentlichte zehn Jahre später den Roman „Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication“, in dem er seine Erlebnisse teils autobiographisch verarbeitete.
Seitdem hat sich der 1971 in Pfaffenhofen an der Ilm geborene Kopetzky zu einem der interessantesten deutschsprachigen Autoren entwickelt. Auch mit seinem neuen Roman „Damenopfer“ taucht er, wie schon in den vorigen Büchern „Risiko“, „Propaganda“ und „Monschau“, tief in die Geschichte des letzten Jahrhunderts ein.
In „Damenopfer“ erzählt er von und über die russisch/sowjetische Schriftstellerin, Dissidentin und Spionin Larissa Reissner (1895-1926), deren Ziel es war, gemeinsam mit dem Rote-Armee-General Tuchatschewski und einem gewissen Oskar von Niedermeyer eine Weltrevolution zu organisieren. Hierfür versuchte sie kurz nach dem ersten Weltkrieg eine geheime Allianz zwischen der Sowjetunion und dem deutschen Militär zu vermitteln. Ausgangspunkt für diese Idee waren unter anderem strategische Pläne, die sie als sowjetische Gesandte im afghanischen Kabul entdeckte. Diese stammten von eben jenem Oskar von Niedermayer, der, ähnlich wie einst Lawrence von Arabien versuchte das Britische Empire zu stürzen. Niedermeyer gehörte schon zu den paradiesischen Protagonisten in Kopetzkys Roman „Risiko“.
Kopetzky vereint wie schon in seinen vorherigen Romanen so auch in „Damenopfer“ zeithistorische Recherche und Fiktion, um letztendlich eine packende Handlung und einen lebendigen Historienbezug zu entwerfen. Doch anders als in seinen letzten Büchern erzählt er seine Geschichte nicht fortlaufend dem Ablauf der Ereignisse entsprechend, sondern setzt biographische Facetten Reissners mosaikartig zusammen. Er lässt in einzelnen Kapiteln Zeitgenossen von ihr auftreten, schreibt, wie sie als Kind Lenin kennenlernte, wie Trotzki und Boris Pasternak, auch Maxim Gorki von ihrer intellektuellen als auch sinnlichen Anziehungskraft beeindruckt waren, lässt selbst Ho Chi Minh zu Wort kommen und zeigt die Bolschewikin als eine von politischer und erotischer Leidenschaft geprägten Femme fatale.
Kopetzkys Verdienst ist es, diese weibliche Figur der Weltgeschichte, die mit nur 30 Jahren in einem Moskauer Krankenhaus an Typhus verstarb, als Komintern-Agentin dem Vergessen zu entreißen. Dies ist ihm auf beeindruckende Weise gelungen.
Jörg Konrad

Steffen Kopetzky
„Damenopfer“
Rowohlt
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Montag 30.10.2023
Franz Kafka „Die große Hörspiel-Edition“
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Zu Lebzeiten hatte Franz Kafka (1883-1924) ganze 170 Seiten publiziert. Dass der deutschsprachige, österreich-ungarische, in Prag geborene und lebende Autor heute zur Spitze der Weltliteratur zählt, verdankt er einer eigenmächtigen Entscheidung seines Mentors, Freundes und Nachlassverwalters Max Brod. Dieser befolgte den letzten Willen des jüdischen Schriftstellers, nach seinem Tod das gesamte Werk, bestehend aus etlichen Romanfragmenten und Erzählungen, zu verbrennen, bewusst nicht. Im Gegenteil: Brod veröffentlichte schon ein Jahr nach Kafkas Tod erste Romane von ihm und editierte in den 1930er Jahren eine sechsbändige Gesamtausgabe.
Seitdem gehört der Autor mit seinen „alptraumhaften Parabeln über vergebliches Streben und menschliches Scheitern“ zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Sein Werk beeinflusste ungezählte Autoren, Maler, Regisseure, Musiker bis in unsere Tage und besitzt in seiner Zeitlosigkeit somit bis heute eine nachhaltige Wirkung.
Im Laufe der letzten siebzig Jahre sind in den Rundfunkanstalten der ARD etliche Hörspiele nach Vorlagen von Franz Kafka erschienen, von denen einige zu Klassikern avancierten. Der Audio Verlag hat in den Archiven gestöbert und sechs dieser Perlen in einer großen Franz Kafka Hörspiel-Edition neu zugänglich gemacht. Die Produktionen entstanden zwischen 1953 und 2002.
Enthalten sind insgesamt sechs Hörspiele wie „Das Schloß“ (SWF - heute: SWR), „Amerika“ (SWF - heute: SWR), „Der Prozeß“ (SDR - heute: SWR), „In der Strafkolonie“ (SRF), „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ (WDR) und „Die Verwandlung“ (NDR). Es sind zugleich die wichtigsten Werke Kafkas, die anlässlich seines 100. Geburtstages im nächsten Jahr das schriftstellerische Ausnahmegenie nachhaltig in den Fokus rücken.
Zu den herausragenden Sprechern/Schauspielern dieser Edition gehört Bruno Ganz, der den Offizier in dem Stück „In der Strafkolonie“ verkörpert. Sein differenziertes, sarkastisches, psychologisch-raffiniertes Ausfüllen der Rolle ist eine sprachliche wie dramaturgische Meisterleistung. Auch Gert Westphals Auftritt als Landvermesser K. in „Das Schloß“ gehört zu den großen Momenten dieser Zusammenstellung. Nicht zuletzt durch ihn wird das Stück zu einem Hördrama par excellence.
Des weiteren gibt es auch ein Wiederhören mit der sensiblen Gustl Halenke („Amerika“), die zu den renommiertesten Hörspielsprecherinnen speziell in den 1950er und 1960er Jahren zählte. Außerdem sind Martin Reinke, Günther Tabor und Günther Lüders in den Produktionen zu erleben, die mit ihren Stimmen eine Zeit wieder lebendig werden lassen, in denen das Radio der tagtägliche informelle und kulturelle Begleiter der Menschen war. Insofern erinnert diese eindrucksvolle Zusammenstellung auch an das momentane Jubiläum 100 Jahre Radio – ohne das es diese Aufnahmen wohl nie gegeben hätte.
Alfred Esser

Franz Kafka
„Die große Hörspiel-Edition“
Der Audio Verlag
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Dienstag 24.10.2023
Herbert Clyde Lewis „Gentleman über Bord“
„Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf.“ So beginnt der Roman „Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis. Wie sein Protagonist ins Wasser, so stürzt sich der Autor, ganz ohne einleitende Worte, mitten ins Geschehen. Standish, ein Mann Mitte dreißig, befindet sich gerade auf der Überfahrt von Honolulu nach Panama, als ihn das Unglück ereilt. Er rutscht an Deck des Dampfers auf einem Ölfleck aus, verliert das Gleichgewicht und fällt ins Meer. Das Wetter ist prächtig, der Ozean ungewöhnlich ruhig, Haifische gibt es hier nicht. Was Standish in den vielen Stunden empfindet, die er im Wasser treibt, während sich die S.S. Arabella immer weiter entfernt, erzählt der Roman. Er ist 1937 in den USA erschienen und bald in Vergessenheit geraten. Das fantastische kleine Buch wurde erst jetzt wieder entdeckt und ins Deutsche übersetzt.
Herbert Clyde Lewis ist als Nachkomme russisch-jüdischer Immigranten in New York aufgewachsen. Er war ein unruhiger Mensch, lebte als Journalist, Sportreporter und Drehbuchautor in den USA und China und war immer wieder bedroht durch Geldnot und psychische Krisen. Mit Henry Preston Standish hat er in jeder Hinsicht sein Gegenbild geschaffen. Der Romanheld gehört der amerikanischen upper class an. Seine Vorfahren kann er bis zu den Pilgervätern zurückverfolgen. Als erfolgreicher Börsenmakler in New York führt er mit Ehefrau und zwei wohlgeratenen Kindern ein privilegiertes Leben. Deshalb ist die Fallhöhe durch seinen Sturz ins Wasser besonders groß.
Trotz der fatalen Situation, in der er sich nun befindet, kann man sich beim Lesen des tragikomischen Romans, in dem sich Sympathie für die Figuren und Ironie die Waage halten, immer wieder hervorragend amüsieren. Der Autor beschreibt Stanton als einen phantasielosen, gesitteten Langweiler, den noch nie ein Unglück gestreift hat. „Er trank mäßig, rauchte mäßig und schlief mäßig mit seiner Frau. Tatsächlich war Standish einer der ödesten Männer der ganzen Welt.“ Plötzlich gerät er jedoch in eine Art Midlife- Crisis und kann sein geordnetes Leben nicht mehr ertragen. Er nimmt sich eine Auszeit und geht auf Reisen. Auf dem Frachter, der ihn über den Ozean bringt, beginnt er, über seinen engen Horizont hinauszublicken. Er empfindet ein Gefühl von Freiheit und Glück, das er bisher nicht kannte. Zum ersten Mal kommt er mit Menschen außerhalb seiner Klasse in Berührung, freundet sich mit einem alten Farmer an und interessiert sich für die anderen Mitreisenden, die als Protagonisten der damaligen amerikanischen Gesellschaft mit Treffsicherheit und Witz charakterisiert werden.
Als Stanton auf den Schiffsplanken ausrutscht und aus der Welt fällt, ist sein Gefühl zunächst nicht Angst, sondern Scham. Ein Mann wie er, ein standesbewusster Gentleman, stürzt nicht einfach so in den Ozean, das ist lächerlich. Seine vornehme Erziehung hindert ihn daran, laut um Hilfe zu schreien. Anfangs glaubt er noch, dass die Arabella bald umdrehen und ihn retten wird. Doch er überschätzt seine Wichtigkeit, sein Fehlen fällt lange niemandem auf. Immer wieder wechselt der Autor gekonnt die Perspektive, springt von Stanton zu den unterschiedlichen Leuten auf dem Dampfer, ihren Gedanken und Tätigkeiten, die wenig mit dem einsamen Mann im Meer zu tun haben. Dieser macht währenddessen ganz unterschiedliche Phasen durch, seine Stimmung schwankt zwischen Hoffnung und zunehmender Panik.
Zeitgenössische Kritiker haben dem Roman seine Kürze vorgeworfen, dabei ist gerade das seine Stärke. „Gentleman über Bord“ ist von einer solchen Präzision und Unmittelbarkeit, dass man beim Lesen fast meint, selbst im Meer zu liegen und das grenzenlose Verlorenheitsgefühl zu spüren, das Standish angesichts der Weite und Gleichgültigkeit des Wassers und des Himmels erfasst. Nach und nach entledigt er sich seiner Kleidung und seiner Wertsachen, weil sie ihn beim Schwimmen behindern. Nackt und schutzlos ist er dem fremden Element ausgeliefert. Alles, was ihm bisher wichtig erschien, verliert an Bedeutung. „Aber jetzt sah er deutlich, dass das Leben kostbar, dass alles andere, Liebe, Geld, Ruhm, ein Schwindel war, wenn man es mit der großen Güte verglich, einfach nicht zu sterben.“
Herbert Clyde Lewis bringt in „Gentleman über Bord“ ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das einige Jahre später, in den 1940-er Jahren, von Philosophen wie Sartre und Camus in Begriffe gefasst wurde. Der einsame Mensch in der Unendlichkeit des Ozeans - das ist ein eindrucksvolles Bild für die „Geworfenheit“ des Einzelnen, wie es im Existentialismus heißt.
Lilly Munzinger, Gauting

Herbert Clyde Lewis
„Gentleman über Bord“
Mare Verlag
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Dienstag 17.10.2023
Jahrhundertstimmen „1945 – 2000“
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„Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort – unverzüglich“ (Günter Schabowski 1989), „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“ (Michail Gorbatschow 1989 – bekannt geworden unter: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“), „Tor! Tor! Tor!“ (Herbert Zimmermann 1954), „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ (Walter Ulbricht 1961), „Ich bin ein Berliner!“ (John F. Kennedy 1963) - Sätze und Ausrufe, die fest mit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts verbunden sind.
Der Hörverlag setzt sein Mammutprojekt Jahrhundertstimmen mit einem zweiten Teil fort: „Jahrhundertstimmen 1945 - 2000“ . Auf insgesamt vier mp3-CDs mit einer Länge von knapp 40 Stunden(!) wurden außerordentliche politische, kulturelle, wissenschaftliche und sportliche Ereignisse aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in akustischen Originalaufnahmen dokumentiert und teilweise auch kommentiert.
Zwar entspricht bei älteren Aufnahmen die Tonqualität nicht immer ganz dem heutigen Standard, trotzdem ist „Jahrhundertstimmen“ in seinem Umfang und seinem Inhalt eine historisch einmalige Zusammenstellung. Es finden sich außerdem in dieser Ausgabe Gespräche mit Erika Mann über ihre Beobachtungen beim Nürnberger Prozess vom Dezember 1945, die Rede von Bundespräsident Theodor Heuss „Vom Recht auf Widerstand“ vom Juli 1954, einem Interview von Hermann Rockmann mit Billy Wilder in Hamburg vom Mai 1959, einer Reportage über den Besuch Willy Brandts in Erfurt von 1970 bis hin zum bekannten ZDF Interview mit Helmut Kohl zur Parteispendenaffaire 1999. Es ist Zeitgeschichte pur, die komprimiert und original zu erleben ist. Ein Vergnügen, das manchmal auch schaudern lässt und rückblickend den einen oder anderen historischen Moment noch einmal heraufbeschwört. Eine akustische Sternstunde - nicht nur für Geschichtsprofis.
Jörg Konrad

Jahrhundertstimmen
„1945 – 2000“
der Hörverlag
4 mp3-CD, Gesamtlaufzeit 39h 45min
Herausgegeben und kommentiert von Hans Sarkowicz, Ulrich Herbert, Michael Krüger, Ines Geipel u.a.
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Dienstag 19.09.2023
Patricia Görg „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“
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Sie nähert sich den Menschen, egal ob Jean Fautrier oder Utagawa Hiroshige, mit Bedacht von außen, taucht über ihre Werke ein in ihre Seelen. Sie verortet diese voller Sensibilität und Respekt entsprechend ihrer Kunst und aus der eigenen Betrachtung heraus.
Patricia Görg spaziert in „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“ mit Wilhelm Busch fiktiv durch die Umgebung von Wiedensahl, einem winzigen Dorf, südwestlich des Steinhuder Meeres. Sie folgt seinen Gedanken und beobachtet sein Tun.
„Keiner hat ihn je malen sehen“, beginnt Patricia Görg ihren Text über Jean Siméon Chardin, den großen französischen Maler. Sie beschreibt die Modelle seiner Stilleben – nicht die Bilder. „Was sehen wir, wenn wir sehen?“, lautet ihre zentrale Frage. In seinen Bildern zumindest altern die Zellen nicht.
In „Die ersten Menschen“ begleitet Patricia Görg in den 1920er Jahren einen Trupp Kopistinnen nach Südrhodesien, kriecht mit ihnen gedanklich durch dunklen Höhlenschlamm und entdeckt Scharen von Silhouetten, die an die riesigen Granitwände gemalt sind. Blasse, bizarre, kantige Figuren. Menschen, die tanzen, laufen, fliegen, Antilopen, Flusspferde, ein Löwe ohne Kopf. Der Reigen hat keinen Anfang und nimmt kein Ende.
In elf wunderbaren, wie entrückt wirkenden Texten bringt Patricia Görg Kunst und Literatur zusammen. Man weiß nicht was mehr fasziniert: Die beschriebenen Personen, oder die Konzentration und Poesie des sich Näherns. Sie entwickelt mit ihren Formulierungen Spannungsbögen, die wie geheimnisvolle Botschaften klingen. „Dieses Buch bewegt sich durch meine Lieblingsgegend: den Raum zurückhaltender Kunst“, sagt sie selbst über „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“.
1960 in Frankfurt geboren, studierte Patricia Görg Theaterwissenschaft, Soziologie und Psychologie. Sie erhielt für ihre Bücher unter anderem den Hörspielpreis „Lautsprecher“(1994), den Schubart-Literaturförderpreis der Stadt Aalen (2013), Italo-Svevo-Preis (2019). 2007 wurde sie für den Alfred-Döblin-Preis nominiert.
Jörg Konrad

Patricia Görg
„Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“
Schirmer/Mosel

Abbildungen:

- Jean Fautrier, Les boîtes de conserve, 1947

- Gislebertus, Der Traum der Magier, um 1130/40

- Vincent van Gogh, Vogelnester, 1885
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Freitag 08.09.2023
Ulrich Woelk „Mittsommertage“
Es beginnt mit einem Hundebiss. Ruth Lember, Mitte 50, Philosophieprofessorin an der Berliner Humboldt- Universität, erwacht früh und voller Tatendrang. Der Junitag wird schön und noch nicht zu heiß werden. Ruth freut sich auf die vor ihr liegende Woche, in der sie der Höhepunkt ihrer steilen Karriere erwartet: sie soll in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Und auch ihr Mann Ben steht kurz vor einem großen beruflichen Erfolg. Er hat gute Chancen, einen wichtigen Architekturwettbewerb zu gewinnen.
Auf ihrer morgendlichen Joggingrunde um den Lietzensee kommt es zu einem unangenehmen Vorfall. Ruth wird von einem freilaufenden Hund angefallen und ins Bein gebissen. Dies ist der Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die innerhalb einer Woche Ruths Karriere, ihre Ehe und all ihre Gewissheiten ins Wanken bringen.
Der Schriftsteller Ulrich Woelk lebt in Berlin. Er hat Physik und Philosophie studiert. Sein hochaktueller Roman „Mittsommertage“ spielt im Berlin des Jahres 2022. Die Coronawelle ist gerade erst abgeflaut, der Krieg in der Ukraine ist als Bedrohung hinzugekommen, und die Klimakleber erhitzen die Gemüter. Die politische und gesellschaftliche Lage verknüpft der Autor in seinem Buch geschickt mit der Geschichte einer Frau, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird und in eine tiefe Lebenskrise gerät.
Der Hundebiss als Einleitung dieser Krise ist vom Autor natürlich ganz bewusst gewählt. Ein zentrales Thema des Romans ist das Verhältnis vom Menschen zu Tier und Umwelt, und der Biss ist ein gutes Bild dafür, dass die Natur beginnt, sich gegen den zerstörerischen Menschen zu wehren. In ihrem Ethikseminar erlebt Ruth, wie leidenschaftlich ihre Studenten an Tierwohl und Umweltproblematik interessiert sind. Woelk fächert in Gesprächen, die er Ruth über das Engagement vor allem junger Leute und über Organisationen wie „Extinction“ oder die“ Letzte Generation“ führen lässt, die Bandbreite der Argumente auf. „Vielleicht sind diese Kinder die Wegbereiter der nächsten Diktatur: der ökologischen“ sagt ein Freund. Ruth selbst bezieht keine eindeutige Stellung, äußert aber Verständnis. „Und wenn sie einfach nur verzweifelt sind? Wenn das alles, der Klimawandel, der Krieg, ihnen Angst macht?“
Dafür, dass die Diskussionen nicht nur theoretisch bleiben, sondern für Ruth existentiell werden, sorgt ein Mann, der Anfang dieser fatalen Woche plötzlich in ihrem Seminar auftaucht. Stav ist ein Freund und Geliebter aus ihren Studententagen. Er konfrontiert sie mit Tatsachen, die sie längst verdrängt und von denen sie nie jemandem erzählt hat. Er hat einen Umschlag dabei mit Bekennerschreiben, die Ruth als junge Frau verfasst hat. „Das heißt, du warst jemand…wie die?“ fragt ihr Mann mit Blick auf die Klimakleber entsetzt, als er von ihrer Vergangenheit erfährt. Aber in Wahrheit ging der Anschlag auf einen Strommasten, den Ruth und Stav in einem romantischen Bonnie- und Clyde- Gefühl gemeinsam planten und durchführten, weit über eine Verkehrsblockade hinaus. Als die alte Geschichte durch eine Indiskretion ins Internet gelangt, ist Ruths berufliche Laufbahn erst einmal beendet.
Vor fast 30 Jahren war das Paar in der Antiatomkraftbewegung aktiv. Bei militanten Kernkraftgegnern galt das Absägen eines Strommastes als legitimes Mittel im Kampf für eine bessere Welt. Ruth und Stav waren überzeugt davon, dass es durch die atomare Bedrohung eine akute Notlage gab, die Sachbeschädigung rechtfertigte und sogar moralisch geboten machte. Doch der Schmerzensschrei eines getöteten Rehs verfolgt Ruth seither in ihren Träumen.
Ulrich Woelk stellt in seinem Buch drängende Fragen. Wenn es ein Recht auf Notwehr gibt, wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen? Wie hoch ist der Wert des Rechtsstaats einzuschätzen? Was ist ethisch vertretbar, wenn der Staat versagt und man vor dem Zwiespalt steht, Gesetze zu brechen, um auf ökologische Bedrohungen aufmerksam zu machen?
„Mittsommertage“ ist ein spannender, kluger Roman, der zum Nachdenken anregt.
Lilly Munzinger, Gauting

Ulrich Woelk
„Mittsommertage“
C.H.Beck
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Autor: Siehe Artikel
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