Fürstenfeld. Es sind die Kindheitserinnerungen, die uns am stärksten prägen - im Positiven, wie im Negativen. Und dann wäre da noch das direkte Umfeld, das seinen Einfluss ausübt: Ob Hinterhof oder Mietskaserne, goldgelber Meeresstrand oder urige Berggipfel. Juliano Nuñes wurde in Rio de Janeiro, in Brasilien geboren und hatte von Kindheit an einen starken Bezug zu Rios Regenwald im Nationalpark Tijuca, der sich im Einzugsgebiet der zweitgrößten Stadt des Landes befindet. Und vielleicht auch, weil er schon relativ früh seine Heimat in Richtung europäischen Kontinent verließ, sind ihm besonders diese Eindrücke erinnerlich und Teil seiner Choreographie „Cartas do Brasil“ geworden, die am Dienstagabend von der Sao Paulo Dance Company in Fürstenfeld aufgeführt wurde. Zu der gewaltigen und bewegenden Musik von Heitor Villa-Lobos („Bachiana Brasileira Nr. 8“) bewegten sich die Tänzer ausgelassen und konzentriert auf der Bühne. Sie übersetzten dank der Vorgabe Nunes die Vielfalt, die Freiheit und auch die Ritualität der Natur in offenkundige Bewegungen. Ein Universum an Grazie und Eleganz, das sich auf der Bühne abspielte, wobei sich die Company schon im ersten Teil ihres Auftritts tief in die Herzen des Fürstenfelder Publikums tanzte
„Anthem“, das folgende Stück, geriet inhaltlich etwas abstrakter, man könnte auch meinen philosophischer. Die Choreographie zu dieser mehr avantgardistischen Performance erarbeitete der Spanier Goyo Montero. Ihm geht es hier um kollektive Identitäten. Goyo: „Es gibt Zyklen im Leben und wir wiederholen immer die gleichen Fehler, indem wir denken, dass wir getrennt sind, dass wir verschieden sind, während in Wirklichkeit jeder Mensch eins ist und in dem Moment, in dem wir diese Einheit verlieren, beginnen die Probleme. Dies ist eine Spur der menschlichen Geschichte“, beschrieb er in einem Interview den Inhalt. Die Musik von Owen Belton kommt einer (elektronischen) Irrfahrt durch die Existenz nahe. Einzelne Kapitel des Lebens, wie die Geburt, das Atmen, die Kommunikation, Schmerz und Macht und Ausgeliefertsein, werden in einer knappen halben Stunde zusammengefasst, in kleinen fast abgeschlossenen Sequenzen aneinandergereiht. Aufwühlend, aber auch humorvoll die packenden Bewegungen der Tänzer mit-, gegen- und umeinander. Begeisternd die Schnittmengen aus klassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz.
Zum Schluss, nach einer längeren Pause, dann noch das traditioneller ausgerichtete „Agora“ in der Choreographie von Cassi Abranches. Dieses von handgetrommelten Polyrhythmen (Sebastián Piracés-Ugarte schrieb die Musik) und elektrischen Gitarren untermalte Stück, beschäftigt sich mit der Zeit, dem gefühlten Tempo in den unterschiedlichsten Facetten. Sowohl das individuelle Empfinden der Zeit, als auch der zeitgemäße Rückblick auf geschichtliche Abläufe werden kraftgeladen wie auch feinsinnig dargestellt. Hier stimmt jede Geste, im Pas de Deux wie im Gruppengeist. Die Figuren gelingen lautlos und präzise, das Artistische wirkt federleicht, die Vitalität des Lebens überzeugt. Die Sao Paulo Dance Company als ein Symbol für bewegende Interaktion und inspirierende Lebendigkeit.
Jörg Konrad